Was wir hier auf diesem Blog betreiben, ist keine Theaterkritik. Allenfalls Theaterjournalismus. Aber selbst das ließe sich aus traditioneller Warte bezweifeln. Wir haben den gleichen Auftraggeber wie die Produktionen, die wir begleiten. Wir sind alles amtierende oder ehemalige Theaterkritiker oder irgendwas dazwischen und probieren hier etwas, was auf dem freien Markt „corporate publishing“ heißen würde. Die Theaterkritik der Tagezeitungen schwankt derweil zwischen Phantom und Farce. Zwischen Geisterstunde und der Simulation einer Öffentlichkeit, die es so nicht mehr gibt. Dieses Blog ist nicht zuletzt ein Mittel, solche Veränderungen zu reflektieren. Und dies nicht nur aus Sicht des, nun ja: Kritikers, sonder auch aus jener der koproduzierenden Theater.
Bevor man über neue Möglichkeiten des Gesprächs über Theater nachdenkt, sollte man den Fakten kurz ins Auge schauen. In Deutschland arbeiten rund 17.000 Journalisten, davon schreiben mittlerweile noch zwischen 3 und 5 ausschließlich und in Festanstellung über Theater – ein paar wenige mehr, wenn wir Wochen- und Fachblätter dazu zählen. Wir reden so oder so über die zweite Stelle nach dem Komma. Wir könnten uns in kleinteiligen Diskussionen verlieren, ob ein Radiogespräch eine kritische Textsorte sei oder eine Vorschau nicht auch Öffentlichkeit herstelle. Oder wir könnten die Theaterkritik noch zehn Jahre schlussverwalten. Aber wir sollten nicht mehr so tun, als sei dieser Beruf noch ein Beruf.

Martin Zongo vom C.I.T.O-Theater ist gerade aus Burkina Faso angereist, trägt elegante Schuhe und beantwortet im Foyer des Mainfranken Theater in Würzburg geduldig Fragen, als hätte er das schon immer gemacht. Eigentlich wäre schon Mittagszeit an diesem sonnigen Novembersonntag. Aber es dauert alles etwas länger – die Übersetzungen zwischen Deutsch und Französisch, die familiäre Atmosphäre zwischen Würzburger Abonnenten, ihrem Schauspielchef Bernhard Stengele und den Burkinabé. Man hat Zeit und Interesse. Ja, sagt Zongo, es gebe auch in Ouagadougu Sprechtheater. Aber nur da, und ohne festes Haus. Am Abend sitze ich in der Nähe von Zongo, als auch er die Zusammenarbeit „Les Funérailles du désert“ zum ersten Mal sieht (s. Blogeintrag unten). Er schaut auf diese riesige Bühne und findet kaum Worte für die schiere Dimension.

Teil des interplanetaren Foyers in Würzburg
Tagsüber hat man viel geredet, erklärt, kontextualisiert. „Theater machen in West-Afrika“ war ein Begleit-Symposium zu „Les Funérailles du désert“ am 13.11., von 10 bis 17 Uhr gab es einen Überblick über die gesamte westafrikanische Theaterregion, einen Fokus auf Burkina Faso, man erfuhr Einführendes über die Säulenheiligen der Postcolonial Studies, Frantz Fanon und Homi Bhabha. Es gab einen Vergleichsbericht von den Konstanzern, die gerade mit Malawi zusammenarbeiten und im Juni 2012 Premiere haben (wir werden berichten!), und man hörte ganz viele Schmankerl zu Würzburg-Ouagadougou. Das Publikum mischte sich zunehmend stärker ein. So sehr diese kleine Tagung durchdacht war und die Theatergänger behutsam begleiten wollte auf dem Weg zur Begegnung mit dem, je nun, Fremden: In der Begegnung mit dem vermeintlich Eigenen, den Zuschauern nämlich, erfährt man mindestens so gut, warum man sich die viele Arbeit immer wieder machen muss.

Es ist ein Sonntagabend, Berlusconi hat seinen Rücktritt erklärt, der „Polizeiruf 110“ mit einer sehr schwangeren Kommissarin ist gerade vorbei. Und als ich auf dem Weg zum Bahnhof Würzburg in eine leere Kneipe schaue, steht da auch schon Günter Jauch und leitet betroffen eine Runde über rechten Terror ein, während die Republik vor dem Schirm langsam wegdämmert. Ich bin zweihundert Schritte vom Mainfranken Theater entfernt, wo das Publikum wahrscheinlich noch immer steht und jubelt. Die Premiere von „Les funérailles du désert“ ist schon einen Monat her, aber der große Saal war annähernd voll. Max de Nil, mit 61 Jahren wohl ältestes Ensemblemitglied, deklamiert kurz vor Schluss: „Wir sind alle aus Afrika“, die acht Schauspieler vom C.I.T.O.-Theater in Ouagadougou in Burkina Faso und die sieben deutschen gehen in ein afrikanisches Lied über. Blende. Cut. Begeisterung. Was ist hier geschehen?

Es gibt, unmittelbar danach, zwei Erklärungen. Zum einen, nennen wir das Kind beim Namen: Kitsch. Jedes Musical und immerhin die Hälfte des Kanons der deutschen Klassik kennt Kitschmomente. Faust, Kabale und Liebe, Käthchen. Wir haben mehr als zwei Stunden interkulturelles Theater gesehen, eine Begegnung zwischen Würzburg und Ouagadougu. Und das war mehr oder weniger auch das Thema dieser 140 Minuten. Zum andern: Vielleicht war das mehr Komödie, als man zuerst dachte, und die Komödie ist die Gattung, die vom Gelingen ausgeht. Zwar endet eine der größten Tragödiendichtungen aller Zeiten ebenso versöhnlich, aber die „Orestie“ von Aischylos zeigt in den zwei ersten der insgesamt drei Teile derart viel Gewalt, dass es am Ende ohne Vergessen nicht geht. Gut, man muss auf dem Boden eines ICE bleiben: Dieses Stück hat nichts mit Goethe, Schiller, Kleist und auch nichts mit Aischylos zu tun, was seine Literarizität angeht. Aber im Kern geht es um, wenn man möchte, Gewaltvermeidung. Die kulturelle Differenz – Wirtschaft, Wetter, Politik – ist selbst in diesem auf Austausch ausgerichteten Theaterprojekt so unüberwindbar, dass man gar nicht anders kann, als nach Ähnlichkeiten zu suchen. Zumindest in einem ersten Schritt, bei einer ersten künstlerischen Begegnung. Der Abend will die Nestwärme im Fremden finden, also Angst abbauen. Kann sein, dass diese Erklärung selbst Kitsch ist.

„Das weiße Zimmer“ von Andreas Sauter begeistert das Publikum in Paderborn
Der Raum ist weiß. Leitern stehen an den Wänden, auf dem Boden Schreibmaschinen, Koffer, ein kleines Podest. Nüchtern wirkt das Bühnenbild von Wolfgang Menardi auf den ersten Blick. Doch nach 90 Minuten geht man angerührt, vielleicht sogar verzaubert aus dem Theater. Es ist Dienstag, die letzte von vier Vorstellungen der chinesisch-deutschen Koproduktion „Das weiße Zimmer“ im vor wenigen Wochen eröffneten Theater Paderborn.

Die Hütte ist voll, an der Kasse gerät die Dame fast in Panik, als sie reservierte Karten nicht im Computer findet. Denn sie weiß nicht mehr, wo sie welche hernehmen soll. Viele asiatisch aussehende Besucher sind gekommen, Paderborn ist eine internationale Universitätsstadt. Die Aufführung läuft zweisprachig, auf deutsch und chinesisch, Übertitel sind unnötig. Nicht nur weil die Texte so geschickt verteilt sind, dass man jederzeit der Handlung folgen kann. Sondern weil die Gefühle so stark und stimmig rüberkommen, dass die Worte nicht das Wichtigste sind.

„Uno a Uno –Ein Spiel für Zwei“ feiert am kommenden Sonntag, dem 6. November Premiere. Zum ersten Mal bringt das Junge Ensemble Stuttgart ein Stück für die Allerkleinsten auf die Bühne.

Inszenierungen für Zweijährige waren für die Intendantin Brigitte Dethier und ihr Ensemble bisher Neuland, doch die Zusammenarbeit mit dem Altmeister des Genres, Roberto Frabetti von La Baracca Teatro Testoni Ragazzi aus Bologna in Italien, ermöglichte nun im JES die erste Produktion für die jüngsten Gäste.
Der Titel des Stückes, Uno a Uno – Ein Spiel für Zwei, könnte programmatisch auch für die Zusammenarbeit des Jungen Ensembles Stuttgart mit dem Teatro Testoni Ragazzi / La Baracca in Bologna stehen: Zwei Partner entwickeln gleichberechtigt miteinander zwei Stücke, die an beiden Häusern mit den jeweiligen Ensembles gespielt werden.
Für diese deutsch-italienische Kooperation untersuchen Brigitte Dethier, Roberto Frabetti und ihre jeweiligen Ensembles aus Stuttgart und Bologna den natürlichen Raum jedes Menschen, seine Privatsphäre: Wenn Erwachsene vor einem Kind stehen, denken sie häufig, das Recht zu haben, ohne weiteres seine „Stadt“ zu betreten, weil sie das Kind gern haben und sich um das Kind kümmern möchten. Doch jedes Kind, auch das allerkleinste, hat einen ureigenen Bereich, und wenn wir den betreten möchten, müssen wir um Erlaubnis fragen. Aber wir können die Kinder ermutigen, die Welt jenseits ihrer Stadt zu erkunden und so ihren Erfahrungsschatz zu erweitern.
Uraufführung 6. November 2011, 15.00 Uhr, Oberes Foyer im JES
Mit Prisca Maier und David Pagan
Inszenierung Brigitte Dethier
Beratung Roberto Frabetti
Ausstattung Maria Muscinelli
Musik David Pagan
Dramaturgie und Theaterpädagogik Peter Galka
Ab ca. 2 Jahren
