Vorbereitung sei keine nötig, heißt es aus der Produktion, während eines der Telefonate, um den Probenbesuch in die Wege zu leiten. Außer, klar, den Roman sollte ich schon kennen. Wir reden über „Verbrechen und Strafe“ von Fjodor Dostojewski, in meiner Ausgabe 745 Seiten dick. Mit einem halben Leben und vielen noch längeren Castorferfahrungen im Gepäck, bleibe ich ruhig. Die Zugfahrt von Berlin nach München reicht für ein Dossier über den Regisseur Kristian Smeds und für 160 Seiten Dostojewski-Auffrischung (für den ersten Teil, ein paar Zerquetschte und den Epilog).

Kristian Smeds: ein Anfangsvierziger aus Finnland, der ein kleines Ensemble um sich schart und im Ausland eine Art freies Künstlertheater an großen Häusern zu machen beginnt. Über seine Einflüsse liest man: Artaud, Grotowski, aber auch Eimuntas Nekrosius und, tatsächlich, Castorf. An den Kammerspielen mischt er seine Leute mit drei Ensemblekräften. Auch immer irre: In gelesene Bücher nach langer Zeit noch einmal reinschauen. Oft verwelkt der Flor der ursprünglichen Begeisterung. Welche Umstände, um den studentischen Mörder Raskolnikow auf den letzten fünf Seiten endlich vom reinen Wasser der  – spirituellen, göttlichen, weltlichen? – Liebe trinken zu lassen. Heute lese ich den Roman als historische Milieuschilderung eines noch jungen Autors.

Endlich in München. Die Probe hat eine Stunde früher als angesagt begonnen, ich komme nicht rein und erreiche niemanden. Der Pförtner zeigt immer nur auf den Probenplan. Da müssens die Frau Dingens, äh, eben hab i sie no gsehn… Ja mei, so ist des dann halt. Meine extreme Unfreundlichkeit (in München: mehr oder weniger grußlos Leute ansprechen und direkt die Sachlage schildern) bringt mich irgendwann doch in die Probe. Eeva Bergroth, die Assistentin von Smeds, erklärt im Dunkeln: Also Dostojewski können Sie so gut wie vergessen. Ok, zurück auf Feld Eins.

Ich schaue drei Stunden zu, am andern Morgen erscheint Kristian Smeds etwas zerknautscht zum Gespräch. Er sei eine Nachteule, ich bin ein Morgenmensch. Wir reden dann doch etwas über den Roman, der eben so lange brauche, um nach dem späten Geständnis Raskolnikows auch noch ein (Glaubens-)Bekenntnis anzudeuten (auf Englisch dasselbe Wort: confession). „Doing time“ nennt Smeds das treffend, dessen Englisch sonst nicht immer derart auf dem Punkt landet, es ist bei den meisten ein großes Radebrechen auf den Proben, die bereits zweieinhalb Monate andauern. Wenn es mal schnell gehen muss, redet man dann doch Finnisch oder Deutsch, es sind genug Leute da, die übersetzen. Aber „Doing time“, das passt, heißt einsitzen, wie im Gefängnis, sozusagen: büßen, wie in der Kirche. Strafe, wie in „Verbrechen und Strafe“. Und tatsächlich wird der zweite Teil des Abends dieses „doing time“ räumlich verstehen und eine Ebene tiefer spielen, als die Zuschauer in der Spielhalle sitzen. Wie nennt Smeds diesen Ort da unten? Gefängnis, Keller, Verließ, Kerker, das Unbewusste? „Alle diese Dinge. Außer das Unbewusste…“
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posted by Tobi Mueller
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In der westlichen Welt beruft man sich gerne auf die Autonomie der Kunst. Frei sei sie, heißt es reflexhaft. Die hohen Kultursubventionen, gerade für das Theater, dienten dazu, die Hoheit der Kunst zu wahren, und diese nicht etwa allein an den Markt zu delegieren. Auch nicht an den politischen Träger, der diese Kultursubventionen legitimiert. So schön das klingt, das sind ein Stück weit stets Sonntagsreden, wenn das heißt: sich auf etwas berufen, das man schon lange nicht mehr konkret versteht. Denn selbstverständlich wird auch Kunst in Abhängigkeitsverhältnissen produziert. Mal in freieren, mal in unfreieren. Im internationalen Vergleich gibt es in Deutschland für die Theaterkunst vergleichsweise paradiesische Rahmenbedingungen. Dennoch: Die Rede, die all dies abbrechen will, geistert schon längst durch Kunst und Politik. Ein Buch wie der vieldiskutierte “Kulturinfarkt” bringt das nur noch einmal besonders populistisch – bei tatsächlicher Lektüre auch: dadaistisch unverständlich – auf den Punkt. Logisch, dass die Angst vor diesem Populismus auch Auswirkungen hat auf die Kunst selbst.

Was bedeutet das für die Theater? Und für ein Projekt wie den Fonds Wanderlust? Für den Alltag einer Bühne bedeutet es in der Regel noch nicht die Welt. Die Mehrzahl der Premieren und das Repertoire unterliegen zwar immer stärker Auslastungsvorgaben, Zwänge gibt es also auch da, Angst sowieso. Kenntlicher wird das Abhängigkeitsverhältnis, wenn ein Haus die Mittel anderswo besorgen muss, weil weder die wiederkehrende Subvention noch die Eigenfinanzierung dafür ausreichen. Das Zauberwort heißt dann: Drittmittel. Nicht wenige Häuser prägen ihr Profil entscheidend mit Projekten, die nur dank Drittmitteln möglich werden. Niemand hat diese Kunst der Geldbeschaffung in den letzten zehn Jahren erfolgreicher betrieben als Matthias Lilienthal mit dem Hebbel am Ufer in Berlin, kurz HAU.

Lilienthals Intendanz ist ein gutes Beispiel, wie man dabei unabhängig bleiben kann, auch wenn vereinzelte Konzessionen an die jeweilige Kulturbehörde nicht ausbleiben. Natürlich wissen die Antragsschreiber, wer in welchen Jurys sitzt, wie man das entsprechend zu formulieren hat, wo man mit welchem Thema eher durchkommt. Was am Ende dabei herauskommt, steht aber jeweils auf einem anderen Blatt. Mit einer Mischung aus Pragmatismus, Schlitzohrigkeit und der unplanbaren Ereignishaftigkeit jeder künstlerischen Produktion, die den Namen verdient, sucht man sich einen Weg, der den Geldgeber nicht erzürnt und dennoch das Profil des Hauses nicht nach Belieben biegt. In den besten Fällen sind Theaterprojekte die Keimzellen für spätere Förderprojekte: Was die Kammerspiele in München mit dem Stadtteilprojekt “Bunny Hill” oder Lilienthals HAU in Permanenz probiert haben, hat seine Spuren in zwei Fonds der Bundeskulturstiftung hinterlassen (Wanderlust und Heimspiel).

Das sind Glücksfälle, weil sich die Kulturförderung von der Kunst inspirieren lässt, und nicht umgekehrt. Denn es gibt eine Tendenz, eine Verschiebung, die eher an den Rändern deutlich wird als in den Metropolen: Kulturförderer verhalten sich wie Künstler, während Künstler sich vermehrt wie Kulturförderer im Sinne von Ermöglicher und Ausführende verhalten. Konkret heißt das: Der Geldgeber macht zu viele inhaltliche Vorgaben, verhält sich kuratorisch, während der Künstler dann noch möglichst gut ausführt, damit er beim nächsten Mal auch wieder Förderung kriegt. So wie ich den Wanderlust Fonds verstanden habe, gehört er nicht in diese Kategorie. Man kann ihn allerdings auch missverstehen. Nicht als Rahmenbedingung, eine Partnerschaft zu ermöglichen, sondern als Plattform, auf der man die Völkerverständigung darstellt oder sogar abfeiert. In diesen Fällen wird die Rahmenbedingung zum Inhalt, und die Behörde agiert unfreiwillig künstlerisch. Solche Fälle hat es meiner Ansicht nach durchaus gegeben. Manchmal benimmt sich die Kunst unterwürfiger, als es der politische Agent verlangt.

Es gibt Gründe für diese Tendenz, dass die Kunst als ausführender Arm (vermuteter) politischer Fantasien auftritt. Jeder, der ein bisschen Max Weber oder ein bisschen Systemtheorie gelesen hat, oder einfach jeder Freischaffende auf dem Kulturkarrussell weiß, dass Institutionen viel Zeit damit verbringen, ihren Apparat zu erhalten oder sogar zu vergrößern. Es geht in der Kulturförderung immer wieder um die Kulturförderung, und nicht um die Kunst, schon gar nicht um die Künstler (das gilt genauso für alle journalistischen Institutionen, die ich von innen kennen gelernt habe. ALLE). Auch das lernt man bei der Lektüre von “Kulturinfarkt”: Wer täglich mit Kunst/Kultur in Kontakt kommt, läuft Gefahr, die Künstler zu hassen. Und probiert es deshalb lieber gleich selbst, in Form von inhaltlichen Vorgaben und Projekten, nach denen sich die Kunst zu richten hat. Ein bisschen muss man das auch verstehen: Man hat als Journalist oder als Kulturförderer in der Tat mit viel schlechter Kunst zu tun. Man muss auf alle Seiten hin vermitteln, warum man überhaupt noch Kultur machen muss (in der Zeitung, im Parlament, am Tresen). Und man deliriert irgendwann, entwickelt Fantasien, wie man das reibungsloser organisieren könnte. Damit endlich Ruhe einkehrt. Allein: Kunst handelt nicht von Ruhe.

Wie unverhüllt übergriffige Fördermodelle anderswo sein können, hat mir die Wanderlust-Reise nach Konstanz gezeigt: Thoko Kapiri von Nanzikambe Arts in Malawi erklärte mir, was sein Theater bisher so gespielt hatte. Ibsen, als die Norweger bezahlten. Menschenrechtsthemen, als die Menschnenrechtsorganisationen bezahlten. Vermutlich hat Kapiris Gruppe Wege gefunden, innerhalb dieser unverschämten Vorgaben noch immer Dinge zu finden, die man interessant fand. Das geht ja immer. Nur von der Autonomie der Kunst sollte man auch bei uns seltener reden, wenn man nicht definieren kann, wie die Autonomie konkret aussieht. Kapiri und das Theater Konstanz haben sich für ein Projekt über Entwicklungshilfe entschieden, bezahlt von der Bundeskulturstiftung. Auf den Proben wurden keine Verständigung der Kulturen durch Kultur – Trommeln etc. – gesichtet. Das ist ein Anfang, an dem sich auch manches deutsche Theater orientieren könnte, das, leicht gebückten Ganges, auf die Suche nach Drittmitteln geht.

Der nächste große Flughafen ist Zürich, in 80 Minuten ist man schon da: Konstanz, am Bodensee, Grenzstadt, Einkaufsstadt, zumindest für die Schweizer, die da günstig shoppen, ohne sich fremd zu fühlen (fast alles ist wie bei ihnen: die Sprache, der Lebensstandard – nur halt die Preise nicht). Auch beim Theater Konstanz kommt ein Drittel der Zuschauer aus der Schweiz. Sagt Thomas Spieckermann, der Chefdramaturg, im Ruhrgebiet geboren, in Herne aufgewachsen, eine ganz andere Gegend als dieser schöne fette Süden. Als hätten wir einen Code ausgemacht, tragen wir beide Dramaturgenkluft: schwarze Hemden, schwarze Sonnenbrille, Haare in immerhin unterschiedlichem Grau. Es ist warm, ja heiß. In einer Woche ist Premiere von „Welt 3.0 – Maschinerie Hilfe“, der großen Koproduktion mit Nanzikambe Arts in Blantyre, Malawi. In einer Woche? In acht Tagen! Jeder Tag zählt. Morgen Freitag ist es soweit: 8. Juni. Ich sitze derweil an der documenta in Kassel und schaue über die Auen, wenn man blinzelt ist es ein Urwald. Zweimal blinzeln: Back to Konstanz.

In der Spiegelhalle, zwischen Bahnhof und See gelegen, gibt es die ersten Endproben auf der Bühne.  Clemens Bechtel und Thoko Kapiri teilen sich die Regie. Die Szenen, die auf dem malawischen Dorf spielen, liegen in Kapiris Hand. Meistens zumindest. Doch bald vermischen sich die Regien. Mach Du mal weiter. Sure. Einer malawischen Schauspielerin muss erklärt werden, dass hinter der Bühne ein Bildschirm steht, der alles überträgt. Der deutschen Schauspielerin fehlt ein englisches Wort. Obwohl vier Autoren an diesem Text über Entwicklungshilfe gearbeitet haben, ist in den letzten sechs Wochen noch einmal viel hinzugekommen. Man spricht aber nicht nur Deutsch und Englisch, sondern auch Chichewa, die Alltagssprache in Blantyre. Das ist nicht selbstverständlich. Wenn internationales Geld im Spiel ist, hört man auch meistens Englisch auf der Bühne.

Man sollte „Welt 3.0 – Maschinerie Hilfe“ nicht als melancholisches Stück über die Nutzlosigkeit von Entwicklungshilfe missverstehen. Vor der Probe trinken wir einen Kaffee am See, Thoko Kapiri schüttelt den Kopf: „Nein, das wäre zynisch. Im Stück geht zwar viel schief, aber wir wollen vielmehr zeigen, wie falsch die Erwartungen sind.“ Kapiris Gruppe Nanzikambe Arts hatte davor oft politisches Theater gemacht, es wurden Menschenrechtsthemen behandelt, „weil unser Geld auch von Menschenrechtsorganisationen stammte. Wir sind Teil dieser Maschinerie“, sagt er ohne mit der Wimper zu zucken. Er bleibt auch ganz nüchtern, wenn er erzählt, man habe davor viel Ibsen gespielt, weil die Norwegische Botschaft die Gruppe unterstützte. Wären die Deutschen so dreist, zum Beispiel in Togo eine „Minna von Barnhelm“ zu diktieren, oder meinetwegen ein naturalistisches Schauspiel wie Hautpmanns „Biberpelz“? Ich stelle mir einen Shitstorm über dem Goethe-Institut vor, über dem Auswärtigen Amt oder auch hier im Blog der Kulturstiftung.

So klar – oder unverschämt – sind die Verhältnisse dieses Mal nicht. „Ich hatte langsam genug von diesen politischen Themen, und auch hier verhandeln wir Entwicklungshilfe nicht als Politikum, sondern als Realität auf der untersten Stufe, im Dorf, wenn verschiedene Kulturen aufeinander treffen“, sagt Kapiri. Aber was will man machen, die Politik hat sich selber eingemischt, Entwicklungshilfe ist seit zwei Monaten wieder ein Megathema in Malawi. Im April starb der alte, autoritäre Präsident, der es geschafft hatte, die Entwicklungsgelder, die rund ein Drittel des Staatshaushaltes ausmachen, zu verscheuchen. Seitdem versucht seine Nachfolgerin, die Reformpolitikern Joyce Banda, die internationale Hilfe und Investitionen wieder zurückzuholen. Wenn die Konstanzer Ende Juli mit ihren Kollegen nach Malawi auf Gastspiel reisen, landen sie, ohne es gewollt zu haben, in einem existentiellen Diskurs.

Dabei hat dieses Ablschlussprojekt einen ganz anderen Vorlauf. Cheframaturg Spieckermann, der deutsche Regisseur Clemens Bechtel, der malawische Regisseur Thokozani Kapiri und sein Schauspieler Misheck Mzumura. Zwei Jahre haben sie daran gearbeitet. Wie so oft in solchen Projekten redet man von „Recherche“. Tatsächlich sind die Deutschen drei Mal nach Malawi gereist, sind mit gemischten Projekten im Land getourt, haben Workshops veranstaltet und unzählige Interviews geführt. Und einige dieser Recherchen kehren als Typen wieder im Stück: Der zynische Ingenieur, der zu lange in Afrika war, um in sein Heimatland zurückzukehren, aber dennoch nicht mit den Verhältnissen klar kommt; der afrikanische Dorfchef, der nicht so scharf unterscheidet zwischen Geschenk und Bestechung; die junge Frau, die man einer Sabotage verdächtigt und deren Baby plötzlich auffallend hellhäutig scheint.

Das Beste, was einer interkulturellen Arbeit passieren kann, ist manchmal die Umkehrung der Klischees. Auf die Unterschiede der Schauspielerstile befragt, antwortet Thoko Kapiri: „Meine Leute wundern sich immer, wie emotionalisiert die Deutschen spielen, die gehen völlig auf in ihrer Rolle! Die Malawis sind da cooler und sagen immer, hey, wir spielen nur Theater.“ Nach der Probe weiss der Dramaturg Spieckermann erst nicht so recht, was man nun aus dieser Erfahrung „gelernt“ habe. Und erzählt dann, wie das Theater Konstanz in der nächsten Saison unbaubedingt auf das Stammhaus verzichten muss. „Wir spielen dann auch in Gemeindesälen“. Ist das nicht teuer, jedes Mal die Technik neu zu stemmen? „Ach,“ winkt Spieckermann ab, „wir fahren die Bühnenbilder herunter, alles wird sehr einfach werden. Ha, doch was gelernt in Afrika!“ Leute aus dem Ruhrgebiet sind in der Regel schon so nicht sofort aus der Ruhe zu bringen. Aber vielleicht haben Spieckermann und Co. in Afrika noch mehr Geduld gelernt. Oder Hartnäckigkeit. Jedenfalls hört Afrika am Theater Konstanz nicht einfach zu existieren auf, nur weil der Wanderlust Fonds der Bundeskulturstiftung nun ausläuft. Es geht weiter, von See zu See.

Am Telefon ist Thomas Spieckermann, Chefdramaturg des Theater Konstanz. Am 8. Juni ist Premiere von „Welt 3.0 – Maschinerie Hilfe“, dem Abschlussprojekt einer langen Geschichte zwischen Konstanz und Malawi. Seit zwei Jahren wird dieses Stück vorbereitet, und doch passieren die konkretesten Dingen immer am Schluss. Der Text, die Verabredungen, die Länge. Und dann ändern auch noch die politischen Verhältnisse über Nacht. Aber der Reihe nach.

Wir hatten uns kennengelernt in Würzburg, im November bei der Tagung über Theaterarbeit in Afrika. Dort erzählte Spieckermann bereits über seine Erfahrungen in Malawi, in dem kleinen südostafrikanischen Land zwischen Mosambik, Sambia und Tansania im Nordosten. Schon im dritten Jahr arbeitet man in Konstanz mit den Leuten von Nanzikambe Arts in Blantyre zusammen, dank dem Wanderlust Fonds. Und auch das Auswärtige Amt hat etwas locker gemacht, für einen etwas kleineren Austausch mit Theatermachern aus Lohmé, der Hauptstadt von Togo, Westafrika. Es gibt zurzeit kein anderes Stadttheater, das den Austausch mit afrikanischen Partnern derart ernst nimmt. Die aktuelle Spielzeit hat man in Konstanz gleich ganz diesen Erfahrungen gewidmet: „Afrika – In weiter Ferne so nah“. Und plötzlich schaut man auch überregional auf das Theater am Bodensee. Die „taz“ hat berichtet, die „Süddeutsche Zeitung“ hat eine Reportage vor Ort bestellt. Der Wanderlust-Blogger fährt natürlich selbst hin: nächste Woche zur Probe.

Spieckermann muss kurz überlegen, wenn ich ihn frage, wie viele Male er bereits nach Malawi gefahren sei. „Fünf…, nein vier Mal. Das erste Mal war privat.“ Auch der Intendant Christoph Nix hat „Afrika-Erfahrung“, wie man wohl sagt, wenn man keine hat. Wenn man da war, spricht man ja eher von Uganda, Malawi oder Togo. Jedenfalls merkt man im Gespräch mit Spieckermann, dass es sich hier um mehr handelt als um ein Drittmittelprojekt, also eine Inszenierung, die man mal macht, weil es vielleicht ganz spannend ist, mal wegzufahren und aus der Mühle rauszukommen, und weil das auch jemand anders bezahlt. Man merkt es, weil er kaum je die großen Phrasen bemüht wie „Also in Afrika ist es ja so, dass….“ oder „Auffallend ist…“. Man war oft genug da, um sich mit den Dingen zu beschäftigen, nicht allein mit den Vorstellungen. Es sind Dinge wie: Ein Drittel des Etats des Staates Malawi sind Entwicklungsgelder, die meisten davon wurden allerdings von einem diktatorischen Regime veruntreut, im vergangenen April starb das Staatsoberhaupt und wurde von einer Frau abgelöst, der Reformpolitikerin Joyce Banda, die nun versucht, die Entwicklungsgelder und Investitionen wieder ins Land zu holen. Es sind aber auch Dinge wie, dass während der Zusammenarbeit mit den Spielern von Nanzikambe Arts in Blantyre die Leitung ausgetauscht wurde, von einer Britin und einem Südafrikaner ging sie an malawische Künstler. „Es war nicht immer klar, ob unser Projekt unter diesen Umständen weiter gehen würde.“

Das sind alles Dinge, die nahe legen, den Kulturaustausch oder den Kulturclash auch zum Thema zu machen. Zwei deutsche Autoren, darunter Spieckermann selbst, zwei malawische haben nach den Workshops geschrieben, schreiben noch. Eine deutsche NGO (Nicht-Regierungsorganisation) in Malawi, ein Dorf auf dem Land, das Büro zu Hause in Deutschland, das sind die Schauplätze, auf denen Dinge explodieren und die Sprachen sich mischen. Obwohl dieser Austausch auch mitten im Repertoire stattfindet, das ganze Haus bestimmt und damit seine Exotik zugunsten einer Inhaltlichkeit schrittweise aufgeben kann, steht in „Welt 3.0 – Maschinerie Hilfe“ die Situation des Austausches im Zentrum. „Ja“, sagt Spieckermann, „man kann kaum anders, wenn man zusammen auf der Bühne steht. Vielleicht braucht man noch mehr Zeit, um diese Themen hinter sich zu lassen.“ Allerdings, und das ist zentral für dieses Projekt der gegenseitigen Zu- und Überschreibungen in einer gemischtkulturellen Ko-Autorschaft: „Wir arbeiten an einer fiktionalen Geschichte, das ist kein Dokumentartheater.“

Außer Atem drehe ich mich um die eigene Achse und suche den Eingang (s. letzer Blogeintrag). Ich bin, was ich nie bin im Theater: zu spät. Im Foyer steht ein stattlicher Mann in Uniform, der jeden Nacheinlass verbietet. Jeden? Das kann nicht sein, nach Turin gereist und das Pollesch-Gastspiel verpasst. Was für ein Klischee, zu meinen, in Italien problemlos zu spät sein zu können. Aber da kommt Mario Martone, ein berühmter Filmregisseur und der Stiftungsdirektor des Teatro Stabile. Er ist genau so spät dran! Die Uniform bleibt erst hart. Das Zauberwort heißt „Capo“, Chef. Mario Martone wiederholt es oft. Er ist der Chef, aber auch ich bin der Chef, nämlich der Bundeschefkulturstiftung oder so. Martone bleibt in Bewegung, redet, geht rein, kommt raus, schleust uns alle rein, während er weiter redet. Die Uniform redet auch, rudert mit den Armen, aber nun bereits abwehrend. Keiner verliert das Gesicht, denn wir haben ja darüber geredet. Nun kann es wirklich losgehen.

Fabian Hinrichs und das Netzwerk.

Drinnen zieht der Schauspieler Fabian Hinrichs gerade den Vorhang auf, der eine Paraphrase auf Brecht darstellt. „Kill Your Darlings – The Streets of Berladelphia“, der Pollesch-Abend aus der Volksbühne in Turin, die italienischen Übertitel blinken auf der LED-Anzeige. Und der Chor schwirrt um Hinrichs herum, junge Turnerinnen und Turner aus Berlin. „Ich dachte, du seist ein linkes Kollektiv, aber du bist ein Netzwerk!“ schmettert Hinrichs dem stummen Körperschwarm entgegen. Oder: „Das Netzwerk will Beziehungen führen. Aber das kannst Du gar nicht, Du bist zu viele!“ Fast am Anfang der Gassenhauer des Abends, der im kulturalisierten Berlin gerade zum Tresenwitz avanciert: „Nein, ich will nicht mit Dir ins Bett, Du bist ein Netzwerk!“
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