Mit Wilhelmshaven hat meine Reise als Pfadfinderin aus Wanderlust vor einem knappen Jahr begonnen, in Wilhelmshaven endet sie nun wieder – ein schöner Zufall. Auch für die Stadt schließt sich der Kreis: Die Premiere von „Bydgoszcz/Bromberg“ ist die letzte Etappe der geförderten Zusammenarbeit mit dem Theater Polski. Und am Sonntagabend gleichzeitig der Abschluss des Geburtstagswochenendes der Landesbühne Niedersachsen Nord, die mit mehreren Premieren, Empfängen und Vorträgen ihren 60. feierte.

Piotr Stramowski (als Mieszko), Julia Blechinger (als Else), Roland Nowak (als Kazimierz)

Piotr Stramowski (als Mieszko), Julia Blechinger (als Else), Roland Nowak (als Kazimierz)

Stück und Inszenierung von „Bydgoszcz/Bromberg“ sind mir nicht neu (in Bydgoszcz läuft der Abend als „Erdbeersonntag“, hier mein Premierenbericht) und doch ist in Wilhelmshaven alles anders. Zunächst die Verstehbarkeit: Die polnischen Passagen sind übertitelt, aber sie sind lang, das Publikum muss viel und schnell lesen, eine Distanz zu den polnischen Figuren bleibt. Das ist anstrengend, führt allerdings direkt zum Kern des Stücks: zur schwierigen Annäherung zwischen Polen und Deutschen, oft aufgeladen mit Ressentiments und Vorurteilen. Hinzu kommt: Der „Blutsonntag“, den das Stück inhaltlich verhandelt, ereignete sich am 3. September 1939 in Bydgoszcz – in Wilhelmshaven hat man dazu ein gutes Stück Sicherheitsabstand, das ist im Publikum spürbar. Auch wenn viele Vertriebene von damals eine neue Heimat in Wilhelmshaven fanden und diese Geschichte im Innern an die Nordsee mitnahmen – das Thema ist beim durchschnittlichen Wilhelmshavener heute weniger bekannt, als es das vermutlich in Bydgoszcz ist.

Bydgoszcz war historischer Schauplatz, Wilhelmshaven ist nun Ort der Handlung im Stück; dorthin reisen Mieszko und sein Großvater Kazimierz, um an einer „Versöhnungskonferenz“ teilzunehmen. Hier trifft Mieszko auf die junge Dolmetscherin Dora, hier hofft Kazimierz, Elsa wiederzutreffen – die Deutsche, die ihn vor 70 Jahren vor dem Erschießungskommando versteckt hat. Beschrieben wird das Wilhelmshaven der Gegenwart: Viele Lacher im Publikum, wenn die Nordseepassage im Hauptbahnhof und der dortige „Bayerische Tag“ mit Bier und jodelndem Lederhosenträger zum fingierten Schauplatz für Mieszkos und Kazimierz’ (unblutigen) Amoklauf wird. Ohne Munition geht der Alte dabei auf die Deutschen los – seine Art der Vergangenheitsbewältigung.

Generell scheint es mir, als begegne man der Inszenierung in Wilhelmshaven gelöster als in Bydgoszcz. Die ironischen Spitzen, die bösen Witze Mieszkos werden halb empört doch wissend bekichert – man erkennt sich wieder in Klischees. Die Beziehung zwischen dem älteren Paar Else und Kazimierz wirkt in der elegischen Sprache und dem pathetischen Spiel dagegen arg angestrengt. Trotzdem: Der Abend wird lange energisch beklatscht.

Kathrin Ost (als Dora) und Roland Nowak (als Kazimierz)

Kathrin Ost (als Dora) und Roland Nowak (als Kazimierz)

Aber wie das so ist mit der Einschätzung von Publikumsreaktionen – vielleicht projiziere ich auf die Zuschauer nur meine eigene Gelöstheit, die ich hier im Vergleich zur polnischen Premiere empfand. Als die Aufführung in Bydgoszcz mit Hitlers Rede vom 13. September 1939 begann, wäre ich am liebsten unter den Stuhl gekrochen. In der ersten Reihe platziert bildete ich mir ein, alle polnischen Augen auf mir und den deutschen Kollegen zu spüren. Beim Lesen war es noch weit weg gewesen, das Gefühl, das bei Dora im Stück zur Entschuldigungsflut geführt haben muss: „Verzeih mir den Krieg!“ bittet sie Mieszko plötzlich. „Palmiry, Auschwitz, Majdanek, Gestapo, Warschauer Aufstand, Warschaus Zerstörung, Abtransporte, Erschießungen, drei Millionen Tote… Westerplatte, Gleiwitzer Provokation, Zivilistenmassaker, nur für Deutsche, Einsatzgruppen, SS-Brigaden, Hans Frank, Rudolf Hess, Luftwaffe – verzeih mir!“ Und dann saß ich in der Vorstellung, sah mir mit etwa 100 Polen auf engstem Raum Hitlers Hasstirade gegen das polnische Volk an und fühlte mich – schuldig, auf eine diffuse Weise. Die Hitlerrede ist, mit Verlaub, unter Deutschen leichter zu ertragen.

Nach der Aufführung unterhalte ich mich darüber mit Pawel Lysak, dem Intendanten des Theater Polski. Ein fast zierlicher, ruhiger Mann, freundlich, mit einem verschmitzten Lächeln. Er erzählt von einem Schüleraustausch, bei dem seine Familie Besuch von einer zwölfjährigen Hamburgerin bekam. „Sie wollte sich tatsächlich für die Kriegsverbrechen entschuldigen. Ein zwölfjähriges Mädchen – ich war entsetzt!“ Nirgends, so sagt er, sei die Vergangenheit so offensiv aufgearbeitet worden wie in Deutschland. Und jedes Land, denke ich, verarbeitet anscheinend anders: Während die Deutschen oft allergisch auf bestimmte Signalworte reagieren (man denke nur an Katrin Müller-Hohensteins „Inneren Reichsparteitag“), setzen die Polen lieber ihren scharfen Humor ein. „Ich halte nicht den Atem an oder schrecke hoch, wenn die Hitlerrede gezeigt wird“, sagt Lysak. „Man darf hier alles sagen.“ Die Inszenierung habe in Bydgoszcz aber einen Nerv getroffen und sorge nun für großen Wirbel und hitzige Diskussionen in der Stadt – wenn das nicht das Beste ist, was eine solche Zusammenarbeit bewirken kann.

In Wilhelmshaven wird es nicht leicht, ein großes Publikum für den wichtigen Abend zu gewinnen. Er ist schwierig, nicht ganz selbsterklärend – und wer unter 60 hat schon je vom Blutsonntag gehört? Das Theaterprojekt mal außer Acht gelassen, bedeutet diese Unwissenheit im wirklichen Leben natürlich auch, dass jüngere Generationen unbelasteter aufeinander zugehen können. Trotzdem ist es fast beschämend, wie wenig (nicht nur) ich über Polen und seine Geschichte weiß. Die Autorin Katharina Gericke muss heute darüber lachen, wie sie beim ersten Besuch in Bydgoszcz zu Projektbeginn ohne einen einzigen Zloty einreiste: „Hatte ich gar nicht mehr im Kopf, dass es dort keinen Euro gibt.“

Tags: , , , , , , ,

1 Comment

  1. local_patriot | 7.11.2012 11:52

    Gute Schauspieler. Der vollständige Mangel an Objektivität und historisches Wissen. Eine Beleidigung für die vielen Menschen in Bydgoszcz.

    Bitte versuchen Sie es zu übersetzen:

    http://www.express.bydgoski.pl/look/article.tpl?IdLanguage=17&IdPublication=2&NrIssue=2268&NrSection=500&NrArticle=232124

    http://1939.pl/zbrodnie-wojenne/krwawa-niedziela-w-bydgoszczy/a_jednak_dywersja.htm

leave a comment

You must be logged in to post a comment.