von Bernhard Stengele

Die Überraschung gelingt. Ich betrete während des Trainings das CITO: ein Aufschrei und ich habe lauter Kollegen am Hals, manche haben Tränen in den Augen – ja, es war richtig herzufliegen. Wir haben doch sehr viel erlebt. Wir waren jetzt monatelang eine Truppe, wir haben hart gearbeitet, 5 Monate lang. Die meisten haben in drei Monaten 70 Vorstellungen gespielt, 2 Uraufführungen erarbeitet. Es sind ein paar echte Freundschaften entstanden, viel berufliche Wertschätzung. Es gab und gibt Animositäten und ganz unterschiedliche Wahrnehmung – durch die Bank. So ist es immer. Hier gibt es keine Trennung zwischen schwarz und weiß, zwischen Afrikanern und Europäern, jeder hat sein Leben, seine Ziele oder Ideen, seine Sorgen, seine Abgrenzung. Die Diskussion auf der Probe: du hast aber und du musst das …etc.pp. Und jeder glaubt recht zu haben, so entstehen alle Konflikte, so entstehen Kriege.

Es sind auch berufliche Freundschaften zu Ende gegangen, ausgetrunken. Auch das gehört dazu. Auch wenn es schmerzt.
Letzte Vorstellung. Der Staub hat über die Wochen täglich zugenommen, die Luft ist diesig und rot.
Das CITO schickt massenhaft Leute weg, zu wenig Platz. Wir machen noch eine Zusatzreihe am Boden. Die Regeln der Versammlungsstättenverordnung sind nicht Teil der Kooperationsvereinbarung.

Man kann sagen: es ist voll. Viele sind zum zweiten, dritten Mal da. Filmleute, Professoren, mancher illustre Gast, der sich das Theaterereignis, von dem man spricht in diesen Tagen, nicht entgehen lassen will. Die Stimmung ist ausgezeichnet. Selbst die Passagen, wo das Stück ein bisschen schwer in Gang kommt, werden sehr aufmerksam und aufgeräumt kommentiert. Dann die politischen Sätze: alle sprechen mit, laut: Oser, lutter, savoir, vincre – wagen, kämpfen, wissen, siegen!! Die Worte Thomas Sankaras, viele recken die Faust, ein beeindruckender, ein unheimlicher Moment. Ja, das ist bewegend.

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von Bernhard Stengele

Es ist 6.00 Uhr, auf die Sekunde genau 6.00.
Bern, am 26.01. 2012. Ein kleines Hotel, das “Kreuz” heißt: Teppichboden grau, Zentralheizungsluft, aufgehängter Flachbildschirm, Wasser kostet viel Geld, der Manager von Nestle findet das richtig, deshalb sollen auch nur Menschen Wasser kriegen, die es bezahlen können. Aber man kann, glaub ich, das aus dem Hahn trinken. Es trieb mich aus dem Bett hinaus. Zum ersten mal seit Monaten der Impuls wieder zu schreiben von Les Funerailles du desert.

Eigentlich wollte ich ja viel früher, um die Premiere herum am 07.01. Und es hätte ja viel zu berichten gegeben, aber ich konnte nicht, weiß der Geier warum. Jetzt treibt es mich, vielleicht ein letztes Mal. Ich werde hinfliegen zur Dernière, werde diesen Irrsinn auf mich nehmen. Fliege morgen am Freitag, komm am Dienstag zurück. Ich bin froh. Es ist ein gute Entscheidung. Die Produktion hat es verdient, die Darsteller, die mich vermissen. Und ich habe es auch verdient und ich vermisse sie auch, die Darsteller, die Produktion. Ich vermisse Les Funerailles du desert.

Bern in der Schweiz. Vor knapp drei Wochen stand ich auf einer Bühne in Ouaga im Freien unterm Vollmond und habe als Erster Mensch in Westafrika öffentlich das Wort Homosexualität ausgesprochen. Seither ist es kein Tabu mehr. Es ist ausgesprochen, es ist da: ein historischer Moment.

Warum ich? Ich musste einspringen, ein Darsteller war krank. Freust Du dich? hat mich Christa gefragt. Nein, es hat mich nicht gefreut. Als ich dann spielte, habe ich es mehr als gerne getan, ich habe es genossen. Irgendwann, während ich spielte, schaute ich hoch und sah den Vollmond und dachte: merks dir. Eine Woche später schon konnte ich das Erlebnis gut gebrauchen.
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Mein erster Auftrag als neue Pfadfinderin des Wanderlust-Blogs ist bestens für den Einstand geeignet: Ich fahre nach Wilhelmshaven, einer Stadt an der Nordseeküste, „am Jadebusen“, wie es in den Touristenbroschüren heißt, eine Stadt, in der ich noch nie war und die auch kein anderer Wanderlust-Blogger erkundet hat. Echte Pionierarbeit also; fehlte nur ein Fähnchen mit dem Wanderlust-Logo im Rucksack, um es auf dem Dach des Stadttheaters in Wilhelmshaven, Hauptquartier der Landesbühne Niedersachsen Nord, aufzupflanzen: erwandert!

Wilhelmshaven, eine kleine Stadt mit 80 000 Einwohnern, steuert man entweder als Tourist zum Baden, Wattwandern und zum Besuch im Marinemuseum an – oder man kommt, weil man bei der Marine arbeitet; sie hat hier den größten Stützpunkt in Deutschland. In Wilhelmshaven wohnen aber auch letzte Zeitzeugen, die 1939 den „Blutsonntag“ im polnischen Bromberg (Bydgoszcz) erlebt haben. Zwei Tage nach Beginn des Polenfeldzugs kam es zu diesem Massaker zwischen Polen und Deutschen, die in Bromberg lebten. Noch immer ist strittig, was die genauen Ursachen waren und wie viele Menschen dabei getötet wurden. Ein großer Teil der deutschen Minderheit, die bis Ende des zweiten Weltkriegs in Bromberg lebte, übersiedelte jedenfalls nach Wilhelmshaven. Heute versucht man, diese finstere Vergangenheit aufzuhellen: Bromberg ist Partnerstadt Wilhelmshavens, und die schon erwähnte Landesbühne Niedersachsen Nord nutzt den Wanderlust-Fonds, um das Thema künstlerisch aufzuarbeiten (weitere Infos): Im Oktober hat das deutsch-polnische Gemeinschaftsstück über den Blutsonntag zuerst in Bromberg (13.10.), dann in Wilhelmshaven (20.10.) Premiere. Dazu dann mehr im Herbst. Momentan nähert man sich gegenseitig mit Gastspielen an: Die Wilhelmshavener haben ihren „Woyzeck“ letztes Jahr in Bromberg gespielt, jetzt haben die Polen ihre „Dreigroschenoper“ in 20 Stunden Busfahrt an die Nordsee gebracht.

Brecht auf polnisch in Deutschland – klingt ungefähr so, als würde man in Polen deutsche Piroggen anbieten. Pawel Lysak, der Intendant des gastierenden Bromberger Stadttheaters „Teatr Polski Bydgoszcz“ und Regisseur der Inszenierung, ist sich des Risikos natürlich bewusst: „In Polen ist die Dreigroschenoper nicht so populär, die Leute finden den Text eher langweilig. Aber hier denken ja alle: ‚Das ist unser Stück und wehe, das wird vermurkst!’“


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Der Fatzer-Stoff ist im deutschsprachigen Theater ein Mythos im eigentlichen Sinn. Ein Mythos, weil unentziffert. Es gibt vier- bis fünfhundert Seiten, aber kein Stück. Nicht von Brecht jedenfalls. Es gibt eine Fassung der alten Schaubühne, noch so ein deutscher Mythos. Und es gibt Heiner Müllers Bearbeitung. Müller, Master of Myth, der Herrscher über die Rückprojektion der deutschen Geschichte in die Unerbittlichkeit der Antike. Über Fatzer wird vor allem geraunt: Brechts Schock der Großstadt, als er nach Berlin kam; die Konsequenz des Umsturzes, seine Logik der immer neuen Ausgrenzung; das Verhältnis von Individuum und Kollektiv, das ist der Kern, der die berühmteren Lehrstücke wie „Die Maßnahme“ umtreibt. Ein Mythos bleibt nur so lange Mythos, wie an seiner Interpretation gearbeitet wird und er also unverstanden bleibt. Ich bin nicht sicher, ob das für Heiner Müller zutrifft. Oder auf die Figur Brechts. Sicher aber auf diesen einen Un-Text, das Fatzer-Fragment.

Wer Müllers Fassung liest, hört das ästhetische Familienverhältnis der beiden wichtigsten deutschen Theaterautoren des 20. Jahrhunderts einmal mehr sofort. Der Schrecken des Krieges wird einerseits ein Stück weit gebannt in der Sprache, und doch wieder in ihrer Deutlichkeit abgebildet. Man hört die Drastik dialektisch in der strengen Formalisierung mitzittern. In Pausen, Sprachbildern wie Kirchen, ein Denken und Schreiben, das die Abgeschiedenheit der Emigration – der äußeren bei Brecht, der inneren bei Müller? – vorwegnimmt. Die Geschichte der Deserteure, die aus dem Ersten Weltkrieg flüchten, die Revolution wollen und sogleich wieder scheitern, ist das Gegenteil des Geplauders.

Nun sehen wir aber italienische Schauspieler in der Volksbühne, sie kommen aus Turin, aus dem Teatro Stabile, und zeigen uns „Fatzer Fragment – Getting Lost Faster“ mit deutschen Übertiteln. Und es sieht, trotz einiger angedeuteten Tableaux vivants, die man auch von Müllers Inszenierungen oder mehr noch: von jenen Einar Schleefs kannte, es sieht einfach sehr, sehr anders aus. Wo kein Text mehr hilft, wird improvisiert. Für deutschsprachige Ohren oft: wortreich charmiert. Man gibt sich diesem Sound hin, der die Melodie stärker gewichtet als das Deutsche mit seinen harten Rhythmen, zumal wenn sie im Vers gehalten werden wie bei Brecht/Müller. Das Italienische wirbt um den Hörer, um das Deutsche muss man als Hörer selbst werben. Das ist eine ungewöhnliche, im Sinne der Unterbrechung des Bekannten, des vermeintlich Verstandenen auch: eine sinnliche Erfahrung. Die Revolution als Casting Show mit dem Publikum, die Musik als oft romantisches Elektro-Intermezzo: Der Text, und es ist viel Text, erscheint so nicht als Evangelium, sondern als Projektion. Für Müller war es die RAF. Für die Turiner sind es die kommenden Aufstände unserer Zeit. Dass man zwischen diesen Klängen und Improvisationen auch immer wieder den Text nach dem Buchstaben zu spielen versucht und auf dieser großen, Brecht- wie Müller-gestählten Bühne nur schwerlich durchdringt, ist am Ende vielleicht nebensächlich.
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VOLKSBÜHNE italienisch beflaggt! Berliner und Turiner Theatermacher treffen sich zum FATZER MATERIALLAGER 19. bis 21. Januar 2012

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