Was Lage und Landschaft betrifft, müssten sich die russischen Schauspieler aus Saratow am Theater Junge Generation (tjg) in Dresden eigentlich wie zu Hause fühlen: Direkt hinterm Haus in Dresden-Cotta fließt die Elbe entlang – ähnlich breit und ruhig wie die Wolga, die durch Saratow fließt, nur einen Katzensprung vom Kinder- und Jugendtheater Kisseljow entfernt (hier mein Reisebericht aus Saratow). Das ist aber, zugegeben, wohl die einzige Gemeinsamkeit der beiden Kindertheater. Es sind eher die Unterschiede im Temperament, im Spiel, in der Theatertradition, die deutsche und russische Schauspieler gleichermaßen füreinander „entflammt“ haben, wie es die Dramaturgin Dagmar Domrös ausdrückt. Auch Ania Michaelis, die Regisseurin der koproduzierten Inszenierungen, meint, die vier russischen Gäste und die vier deutschen Schauspieler hätten „viel aneinander gelernt“ und seien nun „schwer verliebt ineinander“. Die Völkerverständigung war also erfolgreich – und das ist gar nicht so erwartbar, wenn keiner ein Wort in der Sprache des anderen spricht.

Das tjg in Dresden

Das tjg in Dresden

Das neue Haus des Kisseljow-Jugendtheaters in Saratow

Das Kisseljow-Theater in Saratow

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Was genau die beiden Theatersprachen unterscheidet, wurde den Zuschauern nun am tjg exemplarisch vorgeführt – eine Lehrstunde für jeden, den die Entstehungsprozesse am Theater faszinieren: Im Anschluss an die Premiere der deutschen Fassung von „Und über uns leuchten die Sterne…“ mit dem tjg-Ensemble folgte das russische Original, einen Tag später mischten sich die Schauspieler zu zwei deutsch-russischen Versionen. Vier mal hintereinander also das gleiche Stück – immer mit ganz unterschiedlicher Energie, das ist das Spannende daran.

Das 40minütige Stück für Kinder ab zwei Jahren kreist um das Zubettgehen, den Moment vor dem Einschlafen (hier der Blog-Eintrag zur russischen Inszenierung). Vater und Mutter begleiten Tochter und Sohn dabei liebevoll, zärtlich mit ritualisierten Spielen in den Schlaf. Die deutschen „Kinder“ Nadine Boske und Nahuel Häfliger wirken ruhiger, in sich gekehrt, auf eine Art stabiler als Olga Lisenko und Alexey Krivega. Den russischen Darstellern scheint das Herz dagegen beim Spielen fast zu platzen vor Freude – ihr Lachen ist diebisch ansteckend, ihre Einschlafrituale sind so ernsthaft, wie nur Kinder das eigentlich spielen können. Interessant auch die Vaterrolle: Ist in der deutschen Produktion Charles Ndong ein liebevoller Papa zum Pferdestehlen, dauert es in der russischen eine ganze Weile, bis sich durch Alexey Chernyshevs Autoritätsmiene ein Lächeln mogelt und er seinen Kindern ein Märchen erzählt.

Die Schauspieler der deutschen Fassung Nadine Boske und Nahuel Häfliger. Foto: Klaus Gigga

Die Schauspieler der deutschen Fassung Nadine Boske und Nahuel Häfliger. Foto: Klaus Gigga

Diese künstlerischen Verschiedenheiten haben natürlich mit den unterschiedlichen Entstehungsprozessen zu tun: Die Inszenierung wurde in Russland erarbeitet, eingeflossen sind die Kindheitserinnerungen der dortigen Schauspieler – deren Identifikation ist also deutlich größer. Während Alexey Krivega den Astronauten mit Bettlaken als Raumfahrtanzug spielt wie vermutlich damals in seinem Kinderzimmer, konnte Nahuel Häflinger mit dem Weltraum- und Raketenspiel zunächst wenig anfangen: „Ich hab nicht verstanden, warum ich das so ernst spielen soll: den Abschied von der Familie, das Abheben nach dem Countdown.“ Dafür war der Besuch der russischen Schauspieler in der letzten Probenwoche hilfreich. „Erst da haben wir verstanden: Aha, so viel Kraft und Ernsthaftigkeit kann darin stecken! Wir haben uns einiges voneinander abgeschaut.“ Ania Michaelis glaubt ebenfalls, dass ihre deutsche Truppe von der emotionalen, ja fast explosiven Spielweise der Gäste profitiert hat. Und auch von deren Teamarbeit: „In Russland steht der Ensemblegedanke viel stärker im Mittelpunkt.“ Den russischen Schauspielern ging es ähnlich, was den Lerneffekt angeht: „Sie empfinden die deutschen Darsteller als realistischer und schätzen das“, so die Regisseurin. Die bodenständigen Deutschen und die leidenschaftlichen Russen – es steckt wohl doch in vielen Klischees ein Funken Wahrheit.

Michaelis muss beim Besuch der russischen Gäste wieder an ihre Reisen nach Saratow denken: „So wie ich damals die Stadt und das Temperament der Menschen dort romantisch verklärt habe, so verklären die Russen nun das geordnete, sichere deutsche Leben.“ Nun ja – es gibt Schlimmeres, als aneinander die Schokoladenseiten zu entdecken. Die Liebesgeschichte zwischen der Regisseurin und der Wolga-Stadt ist jedenfalls noch nicht zu Ende erzählt, ebenso wenig  wie die Kooperationsgeschichte zwischen tjg und Kisseljow-Theater. Weitere Projekte sind angedacht – und Ania Michaelis hat das Russischlernen noch nicht wieder aufgegeben.

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