posted by Barbara Behrendt
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„Die Wahrheit liegt auf dem Platz” zitierte Lutz Hübner einmal Otto Rehagel, als ich ihn nach seinem Verhältnis zum Publikum fragte. Soll für den Dramatiker heißen: Das beste Stück hat sein Ziel verfehlt, wenn die Leute es nicht sehen wollen. Für keine andere Kunst ist das Publikum so wichtig wie für die Bühne. Literatur lebt vom einsamen Rückzug des Lesers; auch ein Gemälde verlangt nicht nach einem Saal von Betrachtern zur gleichen Zeit, selbst einen Film kann man sich (zur Not) allein auf der Couch anschauen, ohne dass den Film das tangierte. Theater aber findet ohne Publikum schlicht nicht statt. Und: Ein Bühnenkunstwerk verändert sich mit dem Publikum. Nicht das Was, aber das Wie des Geschehens ist beeinflussbar von der Reaktion der Zuschauer – jeder Schauspieler kann ein Lied davon singen, wie sich die Präsenz einer schweigenden Wand oder lachenden Menge auf die Stimmung auswirkt, wie eine konzentrierte oder gelangweilte Audienz. Die Wahrheit, sie liegt fürs Theater also im Parkett.

Dort sitzt „das Publikum“ – und das Wort klingt, als handle es sich um eine homogene Masse. Dabei kann diese Zwangsgemeinschaft eines Abends leicht vom Einzelnen sabotiert werden: Ein Hüsteln an einer heiklen Stelle, ja, ein einziger unzufriedener Zuschauer kann mit Buh-Rufen im Schlussapplaus die Stimmung kippen lassen. Theater, das ist eben auch Dialog zwischen Künstler und Zuschauer – wenn der eine am anderen vorbei redet, fällt die Kunst in den Graben.

Was für eine Macht sie haben, diese Menschen im Zuschauerraum! Und doch, es ist paradox: Das Publikum ist zwar die wichtigste Instanz, gleichzeitig hat sie aber nichts zu melden. Nirgendwo, so scheint es, ist das Verhältnis zwischen Kunstbetrieb und Rezipient so ambivalent wie im Theater. Wie im deutschen Theater, muss man wohl hinzufügen. In keinem anderen Land kann es sich der Bühnenbetrieb erlauben, seinen avantgardistischen Kunstanspruch noch immer so zu behaupten wie in der (trotz aller Sparzwänge) gut subventionierten deutschen Theaterlandschaft. Ist das nun Bevormundung des Publikums? Oder unerlässliche ästhetische Erziehung? Wie auch immer man es finden mag, man braucht diese Errungenschaft nicht so unbedacht abzusetzen, wie sich das die Autoren des „Kulturinfarkts“ wünschen. Oder ist wichtige, bahnbrechende Kunst jemals aus demokratischen Entscheidungen hervorgegangen?

Meine Eindrücke von Theaterbesuchen im Ausland kann man zwar nur oberflächlich nennen: In London kürzlich fiel mir der leicht konsumierbare Fernsehrealismus auf, in Russland die schwergewichtige Tradition. Klischees natürlich, über die es bei kurzen Reisen kaum je hinausgeht. Trotzdem: Die Freiheit zum Experimentieren scheint doch am meisten im deutschen Theater zuhause – gerade weil es nicht zu hundert Prozent von verkauften Eintrittskarten abhängig ist. Einerseits.

Andererseits wünscht sich keiner einen hochtrabenden Intendanten, der vor lauter Kunstanspruch sein Haus leer spielt. Ein Kollisionskurs gegen die Bedürfnisse des Publikums? Eher eine Fahrt auf einsamer Einbahnstraße. Selten nur revoltieren die Zuschauer, wenn ihnen ihr Theater nichts mehr zu sagen hat – sie bleiben einfach weg. Im Zuge des wachsenden Legitimationsdrucks des Theaters scheinen solche Intendantenexemplare aber ohnehin auszusterben. Die allermeisten Theater haben erkannt, dass leere Stuhlreihen kulturpolitische Gefahren heraufbeschwören – man sieht es an der Größe und dem Budget heutiger Marketing-Apparate, die über Blogs und Facebook, aber auch mit Künstlerbegegnungen und Sonntagsfrühstücken die Beziehung zum Zuschauer pflegen. Besonders weit hat sich das Thalia Theater in Hamburg dabei aus dem Fenster gelehnt, als es gleich seine künstlerische Kompetenz ans Publikum abgab und es Teile des Spielplans wählen ließ. Ein Dialog, eine inhaltliche Auseinandersetzung? Wohl mehr ein „Ach, mach doch, was du willst!“ Klar, ohne Publikum geht es nicht. Aber man darf es auch nicht zum Intendanten machen.

Anders geht das Staatstheater Dresden mit seinen Zuschauern um: Es holt sie auf die Bühne. Nur Laien spielen an der Bürgerbühne, jeder Dresdner darf mitmachen. Pro Spielzeit sind das etwa 400 Menschen, die zum ersten Mal schauspielern – und danach etwa dreimal so häufig als Zuschauer ins Theater kommen. Durch das Spielen verändert sich das Sehen und man besinnt sich darauf, was Theater eben auch ist: Das ständige Infragestellen der eigenen Wirklichkeit.

Das alles betrifft den Umgang des Theaters mit seinen Zuschauern. Doch wer oder was diesen Zuschauer ausmacht, wie er nun eigentlich „tickt“, ist schwieriger zu beschreiben. Gäbe es nur einen einzigen Satz über das Publikum zu sagen, wäre es dieser: Es ist immer für eine Überraschung gut. Es ist so zuverlässig wie der Wetterbericht und so kalkulierbar wie der Dax. Was will das Publikum? Diese Frage ist so unmöglich zu beantworten wie der Ausgang einer Wahl: Man macht Umfragen, wertet aus, stellt Tabellen auf – und am Ende kommt es doch ganz anders. Analysen von Zuschauerzahlen machen, auch wenn das die Autoren des „Kulturinfarkts“ gern hätten, noch keine sichere Auslastungsprognose möglich.

Und: So viele Theaterstädte auf der Welt, so unterschiedlich deren Publikum – das zeigen mir auch die Reisen als Wanderlust-Pfadfinder. Angefangen mit meinem Wohnort Berlin, Stadt der Künstler und des Diskurses: In keiner anderen deutschen Stadt treffen sich so viele Theaterconnaisseure in einer Vorstellung wie hier. Wenn Patrick Wengenroth an der Schaubühne Schiller, Freud, Alice Schwarzer und Peter Sloterdijk auf der Metaebene mit Bild-Zitaten von Lars von Trier vermengt, muss sich ein Nichteingeweihter fühlen wie im Narrenkäfig. Robert Schuster, dem in Freiburg eine intelligente, diskursironische „Ratten”-Inszenierung gelang, stieß beim lokalen Publikum zum Teil eher auf Ratlosigkeit – in Berlin hätte man ihn dafür gefeiert.

Theater für spezielle Publikumsbedürfnisse kann sich diese Stadt leisten, schließlich gibt es genügend Häuser, um die Vorlieben aller abzudecken. Wer Übersichtlichkeit und klare Botschaften mag, geht ins BE, wer für seine Schüler einen Klassiker sucht, auf Spielfilmlänge und Wikipedia-Format eingedampft, wird am Gorki oder an der Schaubühne fündig. Der Hipster liebt die Volksbühne, der diskursfreudige Neuentdecker das HAU, der Schauspieler- und Literaturfreund das DT, und der interkulturelle Kreuzberger, der etwas auf sich hält, erkundet das Ballhaus Naunynstraße. So, ganz grob, die Zuschauerverteilung.

In kleineren Städten fernab der Metropolen wirkt das Publikum generell stärker dem bürgerlichen Bild von Theater verhaftet. Das Opern- und Schauspielhaus ist mehr Kunsttempel, ein bildungsgeschichtlich geprägter Raum, der noch immer bestimmte Rituale nahelegt: Abendgarderobe, Programmheft, ein Prosecco in der Pause. Der Respekt vor der Bühne scheint manchmal so groß, dass er den Blick verstellt für das, was dort oben eigentlich verhandelt wird – und was im besten Fall doch jeden betrifft. Doch auch hier kann alles anders sein: „Provinz“ ist vielgestaltig. Bautzen ist nicht Wilhelmshaven ist nicht Görlitz ist nicht Senftenberg. Im brandenburgischen Senftenberg zum Beispiel gibt es nicht einmal ein Kino – das Theater hat sich in einer ehemaligen Turnhalle eingerichtet und ist zum einzigen kulturellen Hort geworden, wo Menschen ihre ureigenen Themen verhandelt wissen. Es ist der Gegenentwurf zur heiligen Halle. Und in Mülheim an der Ruhr ist in 37 Jahren „Mülheimer Stücketage“ ein treues, kritisches Experten-Publikum gewachsen, das etwa die eingeladenen Jelinek-Texte aus den 80ern mit denen von heute vergleicht. Hier sitzen oft kenntnisreichere Zuschauer als beim fast zeitgleich ausgerichteten Theatertreffen in Berlin.

Aber wie verändert sich das Publikum, sobald sich das Theater selbst elementar verändert? Befinden sich Künstler und Zuschauer tatsächlich in einem Dialog – muss es sich dann nicht auf deren Beziehung auswirken, wenn einer von beiden die Grundlagen der Gesprächsführung komplett einreißt und neu definiert? Nichts anderes haben die Regisseure der Postdramatik schließlich getan. Zuschauer, die im Theater bis dato im weitesten Sinne Geschichten erzählt bekamen, saßen jäh vor Schauspielern, die keine Rollen mehr spielten. Könige, Räuber, Mörder? Schluss mit der Illusion! Plötzlich war es vorbei damit, Teil der Menge im dunklen Parkett zu sein – jetzt bleibt der Raum häufig erleuchtet und es ist keinesfalls garantiert, dass man nicht selbst Teil des Spiels wird. Nicolas Stemann geht so weit, die Saaltüren geöffnet zu lassen und das Publikum zu selbstbestimmten Pausen aufzurufen. Es dauert immer eine ganze Weile, bis der erste Zuschauer genug Mut fasst, aufzustehen – aber nach zwei bis drei Stunden stellt sich oft die entspannte, ehrfurchtsfreie Atmosphäre ein, die dem Regisseur vermutlich vorschwebt.

Natürlich inszeniert nicht jeder so postdramatisch wie Stemann – aber noch im traditionellsten Theater ist es mittlerweile die Regel, die Souffleuse in der ersten Reihe zu platzieren. Den Spickzettel für alle offen zu legen, den Einflüsterer zum Einrufer zu machen, das wäre noch an Peter Steins alter Schaubühne undenkbar gewesen. Aber wo die vierte Wand gefallen ist, müssen auch die Gedächtnislücken nicht vertuscht werden – bei René Pollesch steht die Souffleuse sogar als Teil des Ensembles mit auf der Bühne.

Sicher: Den Theatertempel hat das ein stückweit entheiligt, und bestimmt ziehen solche Umbrüche eine angst- und ehrfurchtsfreiere Rezeption nach sich. Auch die Empörung über das zeitgenössische Theater, die Resignation, die Wut und das Unverständnis ihm gegenüber werden womöglich offener, lauter, spontaner geäußert. Kann man das nun als Emanzipation des Publikums bezeichnen? In Ansätzen durchaus. Allerdings kommt mir als Gegenargument sofort der hysterische Hype einiger Inszenierungen in den Sinn, dem sich anscheinend kein Zuschauer zu widersetzen traut. Es seien hier nur Herbert Fritschs „Die (S)panische Fliege“ und der „John Gabriel Borkman“ von Vegard Vinge beim letzten Theatertreffen genannt. Der Einfluss auf das Publikum ist hier zwar vor allem medial gesteuert– „emanzipiert“ jedenfalls möchte man diese trendige Aufgeregtheit um solche Aufführungen nicht nennen.

Eines nur ist sicher: Unterschätzen darf man das Publikum nie. Nicht in seiner Macht, nicht in seiner Unberechenbarkeit, in seinem Bedürfnis nach Nähe, Respekt und Augenhöhe. Das Publikum, es bleibt ein Mysterium. Aber keine Angst: Es besteht trotzdem aus ganz normalen Menschen.

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