In Bydgoszcz bin ich im Hotel „Pod Orlem“ untergebracht, „Zum Adler“. Es ist das älteste Hotel der Stadt; ein glänzend saniertes Gebäude der Jahrhundertwende mit Adler-Griffen an den schweren Türen und einem riesigen goldenen Greifvogel auf dem Dach – dem Wappentier Polens. Die breite Treppe herab könnte jeden Moment ein Kaiserpaar schreiten. Beim Frühstück höre ich mit halbem Ohr ein Gespräch zwischen einer älteren Dame aus Wilhelmshaven und einem Paar aus Berlin, letzteres auf den Spuren einer Großmutter, die hier einmal gelebt hat. Die Stadt, denke ich, ist auch heute noch voller Erinnerungen und Fragen, die mit der Geschichte der Okkupation und des Kriegs zusammenhängen. (Hier mein Blog-Beitrag über den „Blutsonntag“.)

Der Weg vom Hotel zum Theater führt vorbei an prächtigen, frisch heraus geputzten Häusern der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, aber auch an Bruchbuden ohne Fensterscheiben, an historischen Kirchen, an Geschäften von adidas, Rossmann und Rosenthal. 360 000 Menschen leben hier, manche tragen goldene Handtaschen durch die Einkaufsstraße, einer sucht im Müll Essbares. Ein Fluss, die Brahe, fließt durch die Stadt, viele malerische Brücken bilden das „Bydgoszczer Venedig“, es ist schön hier.

Im Theater wird das zweisprachige Stück von Artur Palyga und Katharina Gericke gegeben, es trägt hier, wörtlich übersetzt, den Titel „Erdbeersonntag“. In Wilhelmshaven wird es im November schlicht als „Bydgoszcz/Bromberg“ laufen. Der junge Mieszko fährt darin mit seinem Großvater zum ersten Mal von Bydgoszcz nach Deutschland. Opa Kazimierz hat am „Blutsonntag“ zwei Menschen getötet, darunter einen zehnjährigen Jungen, wie sich erst am Ende des Stücks herausstellen wird. Während des Kriegs wurde er von den Deutschen im KZ interniert und ist nun in Wilhelmshaven zu einer „Versöhnungskonferenz“ eingeladen. Insgeheim hofft er, dort auf Elsa zu treffen, die ihn einst, als junges Mädchen, vor den Deutschen versteckte und später flüchtete. Doch die beiden verfehlen sich. Bei einem Abstecher ins Einkaufszentrum rastet Mieszko plötzlich aus, und Kazimierz bedroht dort mit seinem (nicht geladenen) Gewehr einen jodelnden Bayern. In der Untersuchungshaft muss Miezko der jungen Dolmetscherin Dora den Vorfall erklären – ein Dialog über wechselseitige Vorurteile beginnt.

Während die Autorin Katharina Gericke ihre Figur Elsa in einem lyrischen Monolog sprechen lässt, entwirft Artur Palyga dramatische Szenen, die sämtliche Klischees zwischen den Völkern aufgreifen. Deutschland – das ist für Miezko ein Land, das nach dem Krieg mit „so viel amerikanischem Geld vollgepumpt wurde, dass es noch für den Rückkauf der DDR gereicht hat“; hierhin fährt man nur zum Arbeiten. Und die typische Deutsche ist kräftig gebaut wie eine SS-Frau und kalt wie ein Fisch. Palyga schreibt das wuchtig, mit einigem Dialogwitz – sein Klischee-Pole ist kein Unsympath. Wieviel hat er mit den jungen Polen von heute wirklich gemeinsam? „Es gibt viele Polen in meinem Alter, die so denken“, sagt der Autor, etwa Ende 30, im Gespräch. „Wenn wir als Jungs früher Krieg gespielt haben, mussten die Kinder, die keiner mochte, die Deutschen sein. Deutsche Soldaten, das waren die Bestien, die Sadisten, in jedem Kriegsfilm.“ Bei seinen Eltern, erzählt er, war die antideutsche Propaganda der 1960er und 1970er vorherrschend – in seiner Generation sei man nun soweit, darüber Witze zu machen, es eigentlich besser zu wissen. „Das kommt vor allem durch die vielen internationalen Projekte, die es mittlerweile gibt.“ Die Vertriebene Anna, die später auftritt, wird von Katharina Gericke auch nicht gerade schmeichelhaft dargestellt: „Die Polen sind Dreckschweine“, resümiert Anna. „Manchmal denke ich, dass sie es provozieren, dass Hitler zurückkommt und Ordnung schafft.“

Die junge Generation, Miezko und Dora, kommen sich zwar näher am Ende – aber jeder Versöhnungskitsch liegt dem Stück fern. Elsa und Kazimierz treffen sich nicht einmal. „Weil es diese Begegnungen zwischen der deutschen und der polnischen Kriegsgeneration auch im wahren Leben nicht gibt, abgesehen von den künstlich evozierten“, erklärt Palyga. Die „Erdbeere“ im Text, sie steht für eben jene Gefahr der süßlichen, aber kaum nachwirkenden Umarmung. Die echte Annäherung kann es höchstens dann geben, wenn man „seine Wunden zeigt“, wie es Kazimierz sagt. Seine Form der Traumabewältigung, seine Katharsis ist der Amoklauf gegen jenen Bayern im Einkaufszentrum, allerdings ohne Munition.

Über den in seinen Monologpassagen teils arg pathetischen Text lässt sich streiten, auch die szenisch sehr spartanische Inszenierung von Grazyna Kania, die zu Beginn plump die Hitlerrede zum „Blutsonntag“ an die Wand projiziert, muss man ästhetisch nicht für einen großen Coup halten – aber geschenkt. Wichtiger ist: Die Vertriebenen und die Überlebenden des „Blutsonntags“ können mit dem Stück einverstanden sein. Norbert Boese, den die beiden Autoren in die Recherchen und mit Zitaten ins Stück einbanden, sagt: „Ja, die Deutschen haben den Polen tausenderlei angetan. Aber zwischen dem ersten und dem fünften September 1939 lag der dritte. Wir möchten nur, dass das gesehen wird.“

Boese ist heute Rechtsanwalt in Bremen, den „Blutsonntag“ hat er im Bauch seiner Mutter erlebt. Seit 1972 fährt er immer wieder mit seiner Frau nach Bydgoszcz – zunächst mit Hilfsgütern, später mit der dezidierten Absicht, bei der Annäherung von Polen und Deutschland mitzuhelfen. Er hat die Stadt anfangs so heruntergekommen gesehen, wie es auch heute noch die Baracken in den Nebenstraßen bezeugen. Und er hat antideutsche Propaganda erlebt, der man nur gewachsen sein kann, wenn man im Krieg noch ein Säugling war. „Mein Vater hätte hier nicht herkommen können.“ Über 30mal war das Paar in den letzten 40 Jahren in Bromberg, Freundschaften wurden geknüpft, Kulturaustausch wurde möglich gemacht, die Städtepartnerschaft erwuchs – aus der nun erstmals eine Verbindung zwischen den Theatern entstanden ist. Hat sich die Haltung zu den Deutschen verändert? „Ja, sicher.“ Und die zum „Blutsonntag“? „Sie kommt ins Wanken.“

Bei der Premiere sehe ich hinter mir das Berliner Paar aus dem „Pod Orlem“ sitzen. Die Wilhelmshavener, die den beiden im Hotel zufällig begegnet waren, hatten sie spontan dazu eingeladen – und sie sind spontan gekommen. Worum es in diesem Stück geht, das wurde ihnen trotz der fremden Sprache rasch klar. „Das sollte man auch in Berlin zeigen!“, sagen sie nun. Auf der Premierenfeier gibt es noch Gelegenheit, mit anderen Wilhelmshavenern, früheren Brombergern, zu sprechen. Grenzüberschreitendes Theater als Geschichtsstunde zweier Völker, was für eine große, wichtige Aufgabe. Und welch schöne Fügung, dass gerade einen Tag zuvor der Friedensnobelpreis an die EU gegangen war.

„Ach, das Pod Orlem!“, sagt Norbert Boese noch beim Abschied. „Dort zu übernachten, davon konnten meine Eltern früher nur träumen…“

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1 Comment

  1. Wolfgang Peschke | 22.10.2012 16:33

    Bydgoszcz – Ein Wochenende im Oktober 2012
    Auf den Gedanken, Bromberg – den Geburtstort unserer Großeltern – aufzusuchen, sind wir schon vor geraumer Zeit gekommen. Nun endlich, an einem Wochenende Mitte Oktober 2012, haben wir uns auf den Weg von Berlin ins polnische Bydgoszcz gemacht. Dass wir dabei, historisch betrachtet, in nicht unproblematische Gefilde aufbrechen würden, war uns natürlich klar. Man braucht nur an die drei polnischen Teilungen 1772, 1793 und 1795 zu denken, in deren Ergebnis der polnische Staat als Repräsentant des polnischen Volkes von der Landkarte verschwand. Neben Russland und Österreich war auch das deutsche Königreich Preußen maßgeblich an der Liquidierung des polnischen Staates beteiligt und sicherte sich schon 1772 durch die Einverleibung des protestantischen Westpreußens eine Landverbindung zwischen Pommern und Ostpreußen. So gelangte auch Bromberg in den deutschen Machtbereich und gehörte bis nach dem 1. Weltkrieg und dem Versailler Vertrag für ca. 150 Jahre zu Preußen. Seit der Gründung der Zweiten Polnischen Republik 1918 dann ist Bromberg wieder polnisch, nur unterbrochen für die 6 Jahre der deutschen Besatzung zur Zeit des 2. Weltkrieges. Wie die meisten Angehörigen der deutschen Bevölkerung in Westpreußen, so haben auch unsere Großeltern nach 1918 ihre Heimat Bromberg verlassen. Wenn uns dieser Umstand auch bekannt war, so hatten wir doch kaum eine Ahnung davon, welch schweres Schicksal viele Menschen damals zu tragen hatten mit dem Verlust ihrer Heimat. Die massenhaften Vertreibungen deutscher Menschen nach dem Fiasko des 2. Weltkrieges aus den deutschen Ostgebieten waren uns dagegen eher bekannt. Von einem Phänomen namens Bromberger Blutsonntag hatten wir allerdings noch so gut wie nichts gehört. So kamen wir also reichlich unbeschwert und frohen Mutes mit den Namen unserer Großeltern im Gepäck in Bydgoszcz an und quartierten uns in einem prächtigen Hotel vom Ende des 19. Jahrhunderts im Zentrum des alten Bromberg ein, im Hotel „Pod Orlem“. Im Zuge unserer Ahnenforschungen hatten wir das Glück, einem alten deutsch-polnischen Ehepaar zu begegnen, das mit ehemaligen Brombergern aus Deutschland beim Frühstück saß und sich auf eine abendliche Theaterpremiere einstimmte, die den Bromberger Blutsonntag zum Thema haben sollte. Neben wertvollen Hinweisen zur Vorgehensweise bei der Suche nach den ehemaligen Wohnorten unserer Großeltern wurde bald auch unser Interesse am deutsch-polnischen Theaterstück geweckt. Die Tatsache, dass Teile des Stückes in Deutsch abgefasst sein würden, nahm uns schnell unsere Zurückhaltung, und dass die Premiere selbstverständlich völlig ausverkauft sei, konnte uns ebenfalls nicht von einem Theaterbesuch abhalten. Eigentlich hätte man uns keine Karten verkaufen dürfen angesichts der überfüllten Probebühne des Polski Teatr. Freundlicherweise tat man es dennoch, wie man uns überhaupt sehr auffallend freundlich und hilfsbereit begegnet ist in diesen Tagen in Bydgoszcz. Im Publikum waren einige Deutsche zu finden, die uns bereits im Hotel aufgefallen sind und die offensichtlich extra für diese Vorstellung aus Deutschland angereist waren. So lief man sich also im Theater erneut über den Weg. Unter ihnen auch eine sympathische und engagierte Journalistin, die für die Kulturstiftung des Bundes in Sachen Theaterpremiere unterwegs war. Von ihr kam neben hilfreichen Erläuterungen zum Inhalt des Stückes, schließlich wurden etwa zwei Drittel in Polnisch und also für uns unverständlich dargeboten, auch der Hinweis auf die anschließende Premierenfeier. So sind wir nicht nur in der Premiere, sondern auch recht unkompliziert bei Snack und Wein auf der anschließenden Feier gelandet, wo polnische Intendanz und deutsche Theaterabordnung das Ereignis im Kreise der Schauspieler und Autoren angemessen gewürdigt haben. Das Stück selbst wirkte auf uns trotz der schweren Thematik angenehm frisch, lebendig und kurzweilig und war vor allem intelligent konzipiert. Glücklicherweise wurde kein Historiendrama oder Schlachtengemälde versucht. Im Gegenteil, dramatische Ereignisse wurden im Stück so weit aufgelöst, dass die elementaren und gestaltenden Begegnungen von Menschen sichtbar wurden. Da erinnert sich beispielsweise der alte polnische Mann aus Bromberg, der mit seinem Enkel in Deutschland weilt, in welcher Atmosphäre des Chaos und der Angst und der Feindschaft er im September 1939, schon nach Kriegsbeginn, aber noch vor Einmarsch der deutschen Truppen, in einer Art Vakuum also, mit einem deutschen Jungen am Fluss aneinander geraten ist, woraufhin nur einer von beiden das Ufer lebend verlassen konnte. Und wie er eine zweite mörderische Begegnung hat und eine junge Deutsche erschlägt. Und er erinnert sich weiter, wie er auf der Flucht von einem deutschen Mädchen und ihrer Familie vor dem Erschießungskommando bewahrt wird. Das Stück zeigt auf diese Weise, dass Menschen in Situationen, in denen sie völlig überfordert sind, so irrational handeln köönen. Und fragt damit auch, ob das immer so sein muss und ob das immer so weiter gehen muss. Das Stück weilt aber nicht nur in der Vergangenheit. Im Hier und heute gilt es ebenfalls, eine Situation zu verstehen, in der der junge Pole und sein Großvater während ihres Deutschlandaufenthaltes in irrationaler Weise in einem Konsumtempel wild mit einer Pistole herum fuchteln, friedfertige Volksmusiker bedrohen und „Polen, Polen über alles“ grölen. Eine junge Deutsche begegnet in dieser Situation als Übersetzerin zwischen den beiden Polen und deutschen Polizeibehörden dem jungen Enkel. Das ganze Stück besteht aus solchen Zweierbegegnungen und fragt unablässig nach Schuld und Ursache, ist dabei voller überraschender Wendungen und wartet mit einer poetischen und gleichnishaften Dimension auf.

    Und mir als Zuschauer kommt zum wiederholten Male die dunkle Ahnung, dass man den Menschen nicht in Situationen werfen darf, die ihn völlig überfordern und in denen er nur noch überbordend Angestautes und Erlittenes irrational abreagieren kann und zu einem Helden wird, den niemand wirklich braucht. Aber ein Mensch ist nicht nur Opfer und überfordert, er ist auch der Gestalter seines alltäglichen Daseins. Und in dieser Rolle muss er in jedem Augenblick darauf bedacht sein, dass sich durch sein Handeln in Anderen nichts anstaut, dass sich Andere nicht zurück gesetzt oder gar diskriminiert fühlen, dass Andere nicht ausgebeutet und drangsaliert werden. Denn, so sagt mir meine Ahnung, diese Ungerechtigkeiten, und sind sie noch so subtil, können sich unter besonderen Ausnahmebedingungen leicht zu pogromartigen Geschehnissen aufblähen und auswachsen. Was uns das Stück auf kluge und einfühlsame Weise mitteilen möchte. So jedenfalls unser Eindruck.

    Nach diesen ereignisreichen und erhellenden deutsch-polnischen Begegnungen konnte der Fortgang unserer Ahnenforschungen ebenfalls nur erfolgreich sein. So haben wir dank hilfsbereiter Mitarbeiter aus dem Regionalmuseum in den Drei Speicherhäusern und aus der Stadtbibliothek am Stary Rynek leicht die Straßen gefunden, in denen unsere Großeltern wohnten und ihre Kindheit und Jugend verbracht haben. Und wir sind um diese Eindrücke und um ein wunderbares Wochenende im heutigen Bromberg reicher. Ein Bromberg übrigens, das nicht mehr nur von seiner bewegten und reichen Vergangenheit zehrt, sondern inzwischen auch mehr und mehr auf seine Gegenwart verweisen kann.

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