Landscape with the Fall, das neue Stück von Ivana Sajko hatte gestern in Zagreb Premiere. Nach der Braunschweiger Uraufführung folgte also nun die kroatische Erstaufführung des Stücks. Das Theater Z/K/M/ war ausverkauft, die Stimmung hervorragend. Die experimentelle Inszenierung von Daniela Löffner fand große Zustimmung und bekam kräftigen Premierenapplaus. Es folgte eine lange Premierenfeier mit den kroatischen Schauspielern und Mitarbeitern des Braunschweiger Partnertheaters vom Z/K/M/.

Riesenandrang, darunter die kroatische Ministerin für Kultur, Dr. Andrea Zlatar Violić, und das kroatische Fernsehen. Die Premiere von “Yellow Line” geriet so zum gesellschaftlichen Ereignis. Dabei fasst die Seitenbühne des Großen Hauses, wo “Yellow Line” am Samstagabend aufgeführt wurde, offiziell lediglich 146 Zuschauer. Gesehen haben das neue Stück von Juli Zeh und Charlotte Roos allerdings rund 200 Besucher.

Unter den Gästen waren auch der belgische Theaterleiter und ETC-Vorstand Serge Rangoni, Juli Zehs Übersetzerinnen Latica Bilopavlovic (Kroatien) und Christine Bredenkamp (Schwenden) sowie Paolo Magelli. Der italienische Regisseur und Intendant wird im November auch in Braunschweig zu Gast sein. Als prominentes Mitglied der Jury von “Fast Forward”, Deutschlands erstem europäischen Festival für junge Regie, wird er das herausragende europäische Regietalent 2012 auszeichnen.

Entsprechend ausgelassen war dann auch die Feier bis in die frühen Morgenstunden. Kulinarischer Hit des Abends war eine Torte aus Schokoladenmousse, auf die der Konditor den Anlass der Party in süssen Lettern geschrieben hatte: “Žuta crta”, zu Deutsch: “Yellow Line”.

In Bydgoszcz bin ich im Hotel „Pod Orlem“ untergebracht, „Zum Adler“. Es ist das älteste Hotel der Stadt; ein glänzend saniertes Gebäude der Jahrhundertwende mit Adler-Griffen an den schweren Türen und einem riesigen goldenen Greifvogel auf dem Dach – dem Wappentier Polens. Die breite Treppe herab könnte jeden Moment ein Kaiserpaar schreiten. Beim Frühstück höre ich mit halbem Ohr ein Gespräch zwischen einer älteren Dame aus Wilhelmshaven und einem Paar aus Berlin, letzteres auf den Spuren einer Großmutter, die hier einmal gelebt hat. Die Stadt, denke ich, ist auch heute noch voller Erinnerungen und Fragen, die mit der Geschichte der Okkupation und des Kriegs zusammenhängen. (Hier mein Blog-Beitrag über den „Blutsonntag“.)

Der Weg vom Hotel zum Theater führt vorbei an prächtigen, frisch heraus geputzten Häusern der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, aber auch an Bruchbuden ohne Fensterscheiben, an historischen Kirchen, an Geschäften von adidas, Rossmann und Rosenthal. 360 000 Menschen leben hier, manche tragen goldene Handtaschen durch die Einkaufsstraße, einer sucht im Müll Essbares. Ein Fluss, die Brahe, fließt durch die Stadt, viele malerische Brücken bilden das „Bydgoszczer Venedig“, es ist schön hier.

Im Theater wird das zweisprachige Stück von Artur Palyga und Katharina Gericke gegeben, es trägt hier, wörtlich übersetzt, den Titel „Erdbeersonntag“. In Wilhelmshaven wird es im November schlicht als „Bydgoszcz/Bromberg“ laufen. Der junge Mieszko fährt darin mit seinem Großvater zum ersten Mal von Bydgoszcz nach Deutschland. Opa Kazimierz hat am „Blutsonntag“ zwei Menschen getötet, darunter einen zehnjährigen Jungen, wie sich erst am Ende des Stücks herausstellen wird. Während des Kriegs wurde er von den Deutschen im KZ interniert und ist nun in Wilhelmshaven zu einer „Versöhnungskonferenz“ eingeladen. Insgeheim hofft er, dort auf Elsa zu treffen, die ihn einst, als junges Mädchen, vor den Deutschen versteckte und später flüchtete. Doch die beiden verfehlen sich. Bei einem Abstecher ins Einkaufszentrum rastet Mieszko plötzlich aus, und Kazimierz bedroht dort mit seinem (nicht geladenen) Gewehr einen jodelnden Bayern. In der Untersuchungshaft muss Miezko der jungen Dolmetscherin Dora den Vorfall erklären – ein Dialog über wechselseitige Vorurteile beginnt.
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Es gibt nicht viele Theaterprojekte, die tatsächlich einen Beitrag leisten zur Aufarbeitung der geschichtlichen Vergangenheit – dieses aber ist eines davon. Die Landesbühne Niedersachen Nord und das Teatr Polski in Bydgoszcz (früher Bromberg) haben ihre Zusammenarbeit unter das Thema gestellt, das beide Städte historisch miteinander verbindet: der „Blutsonntag“. Nein, das hat nichts mit „Bloody Sunday“ und dem Nordirlandkonflikt zu tun. Auch im heute polnischen Bydgoszcz gab es einen blutigen Feiertag, den „Bromberger Blutsonntag“ vom 3. September 1939. Wer diesen Spuren der Historie folgt und die Fakten recherchieren will, spürt rasch, wie schwierig das ist – bis heute gibt es keine offizielle Sicht auf die Ereignisse, der sowohl Polen als auch Deutsche zustimmen. Fest steht: Es gab an diesem Tag ein Massaker unter Polen und Deutschen in Bromberg.

Die jüngste, umfassende Auswertung aller Studien, die der Osteuropa-Historiker Markus Krzoska an der Uni Gießen erarbeitet hat, geht von über 400 Getöteten aus. Zuvor lagen die Schätzungen zwischen 178 und 58 000 Opfern – letztere Zahl wurde von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels willkürlich in die Welt gesetzt, und alle Getöteten, so behauptete er, seien Deutsche gewesen. Bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, so schreibt der Journalist Sven Felix Kellerhoff in der „Welt“, sei der „Blutsonntag“ deshalb das gängigste „Argument“ der Rechtsextremen gewesen, um Polen die Schuld am Zweiten Weltkrieg zuzuschieben und die Verbrechen der Wehrmacht zu relativieren. Und auch heute: Unter den ersten Google-Treffern zum „Bromberger Blutsonntag“ erscheint eine Hitlerrede auf YouTube, die von Neonazis eindeutig kommentiert wird.

Aber was ist damals wirklich geschehen? Krzoska beschreibt, dass sich die polnische Armee nach dem Einmarsch der deutschen Truppen am 1. September im Schockzustand befand. Südlich von Danzig wurde die Pommerellen-Armee zerschlagen, weshalb man in Bydgoszcz die baldige Besetzung der Stadt befürchtete. Eine Bürgerwehr wurde eilig gegründet, außerdem strömten Flüchtlinge und versprengte Soldaten in die Stadt, Tausende von Menschen stauten sich auf der Danziger Straße am 3. September, die Stimmung heizte sich auf, Gerüchte über vorrückende Deutsche machten die Runde, plötzlich wurden Schüsse laut – es hieß, deutsche Diversanten hätten das Feuer eröffnet. Das wurde, so Krzoska „zum Auslöser einer Hetzjagd auf einheimische Deutsche“. Bereits am 5. September ließ die Wehrmacht als Vergeltungsakt Tausende von Polen exekutieren. Soweit der Forschungsstand im Frühjahr 2012.

Auf der offiziellen Homepage der Stadt Bydgoszcz ist der 3.9.1939 folgendermaßen notiert: „Am 3. und 4. September kam es zum Ablenkungsangriff der Deutschen, der als ,Blutsonntag’ bezeichnet wird.“ Nirgendwo sonst (zumindest online) ein Hinweis auf dieses Ereignis. Im Flyer „Bydgoszcz – ein Stück Geschichte“ ist zwar der blutige Einmarsch der deutschen Truppen am 5. September aufgeführt, nicht aber die Geschichte des 3. September.

Das Denkmal auf dem Alten Markt für die Opfer des Hitler- und Stalin-Regimes

Das Denkmal auf dem Alten Markt für die Opfer des Hitler- und Stalin-Regimes

Was hat das alles nun mit Wilhelmshaven zu tun? Viele Deutsche aus Bydgoszcz fanden nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Heimat dort oben an der Nordsee, am Jadebusen. Es gibt mittlerweile auch eine Patenschaft zwischen beiden Städten – und trotzdem kann man sich lebhaft vorstellen, was es heißt, eine deutsche Autorin und einen polnischen Autor zu beauftragen, gemeinsam ein Stück über den „Blutsonntag“ zu verfassen. Es gibt wahrlich einfachere Aufgaben für Dramatiker. Mehr dazu in meinem nächsten Blog-Beitrag

YELLOW LINE von Juli Zeh und Charlotte Roos feiert heute in Zagreb Premiere. Nach der Uraufführung am Staatstheater Braunschweig folgt nun die kroatische Erstaufführung. Regisseur Ivica Buljan hat mit seinem kroatisch-deutschen Ensemble eine rockige Szenencollage inszeniert, deren rauher Charm dem widerständigen Geist des Stücks entspricht. Mit der Premiere am Theater Z/K/M/ geht “Achtung: Pioniere!” in die nächste Runde. Ein Premierenbericht und Bilder von der Zagreber Premiere folgen am Montag!

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