Ob ich die Inszenierung denn als typisch finnisch empfunden habe, fragt mich die Produktionsleiterin Eeva Bergroth nach der Uraufführung von Kristian Smeds’ erster Arbeit an den Münchner Kammerspielen. Nehme ich all meine Finnland-Klischees zusammen muss ich sagen: Aber ja! Ganz oberflächlich: der Vodka, die Sauna, der Schnee. Darunter: das Schwere, Harte, die Kraft, die düstere Melancholie und raue Lebenslust. Ein deutscher Regisseur könnte wohl nie so ausschließlich aus dem Bauch heraus inszenieren. „Der imaginäre sibirische Zirkus des Rodion Raskolnikow“ heißt der Abend, Pate stand Dostojewskis Kriminalroman „Verbrechen und Strafe“ – mehr als Grundmotive sind aber nicht übrig geblieben vom 800-Seiten-Klassiker.

Der Finne Smeds lädt uns ein zu einer Zirkusvorstellung: Die Spielhalle ist die Manege, wir sitzen an drei Seiten um diese schäbige Kulisse, die vierte bedeckt ein abgenutzter roter Vorhang, gesäumt von Totenkopf-Matroschkas. Über uns ein grünes Tuch, ein Zelt imitierend. Der Geruch von Sägespänen und Pferdeschweiß steigt mir in die Nase, aber das muss Einbildung sein.

Edmund Telgenkämper, André Jung, Hannu Pekka Björkmann. Foto: Lennart Laberenz

Es beginnt spielerisch und leicht: Der Musiker am Rand (Timo Kämäräinen) beginnt auf der Gitarre zu spielen und André Jung vom Kammerspiel-Ensemble tritt mit abgewetztem Zylinder, roter Uniform und Clownsgesicht als Direktor auf, formt aus Steinen einen Kreis, bespritzt ihn mit Vodka – fertig ist der Pool oder das Eisloch, je nachdem. Zwei finnische Schauspieler und der deutsche Kammerspiel-Kollege Edmund Telgenkämper geben die Zirkus-Crew: trauriger Pierrot, lustiger rotnasiger Clown und Draufgänger-Artist. Sie ziehen sich pantomimisch aus, schrecken zurück vor dem kalten Wasser, springen kopfüber hinein, prusten, japsen. Das ist schön und lustig und poetisch. Härter dann nur Augenblicke später: Der Artist kollabiert im Wasser, seine Kollegen spritzen Rasierschaum in seinen Hintern, pfuschen mit der Rasierklinge an seinen Schamhaaren herum – und tiefer. Spiel und Folter zugleich ist das, mitlachen, auslachen, totlachen.

In der nächsten „Nummer“ die beiden Frauen der Produktion: Katja Bürkle quält als rothaariger Horrorclown das schwarzbemalte Minstrel-Girl alias Annamária Láng. Mit Holzbeilen (Raskolnikows Mord!) und angedeuteter Kettensäge reißt sie dem Mädchen die Perücke ab, skalpiert es, schneidet ihr die Beine ab, wenn sie eigentlich nur die Strumpfhose abtrennt. Oder ist alles nur Spiel? Das schwarze Mädchen giggelt aufgekratzt, der Horrorclown rechtfertigt sich bei „Papa“ Zirkusdirektor, die andere habe ihre Playmobilfiguren genommen. Da gibt Papa dem verstümmelten Mädchen seine Beine, heißt: seine Schuhe.

Foto: Lennart Laberenz

Man muss das so detailliert beschreiben, weil es hier nichts zusammenzufassen gibt. Jede Szene entpuppt sich zu einem neuen Albtraum, einem grotesken, archaischen Spiel über Lust und Horror, Liebe, Hass und Macht. Eine düstere, seltsam leidenschaftliche Ode an das Leben, die keiner Sprache bedarf – die Bilder brennen sich ein.

Sie werden immer krasser, die Schauspieler schrauben sich in Ekstase. Ein Pietà-Bild mit der jungfernhaften „Mutter“ André Jung und Edmund Telgenkämper, daraufhin die zierliche Katja Bürkle, die im Tüllröckchen als „siberian girl“ Sonja (oha – noch ein Dostojewski-Verweis!) zärtlich einen düsteren, haarraufend verzweifelten Raben-Menschen auf ihren Armen hinaus trägt. Lärmender Höhepunkt dann die Nummer vor der Pause des dreistündigen Abends: In einer mobilen Sauna wird der nackte, schwergewichtige Hannu-Pekka Björkman hereingefahren, sein dampfender, nasser Körper mit Kräutern, Butter und Gewürzen eingerieben. Wie dieser Kraftprotz erst mächtig schreit, sich auf die Brust klopft, um dann winselnd in sich zusammenzusacken, als der Direktor ihn mit Elektroschocks traktiert, wie er schreit „Ich bin nur ein Mensch!“ (wieder Dostojewski), das gleicht einer Naturgewalt. Danach ist er ein Zombie, mit verzerrter Kehlkopf-Stimme und in Windeln, grausig und ekelerregend und doch herzallerliebst, bittet er das Publikum um Schokolade. Ob Papa ihn lieb habe, fragt er den Direktor, um daraufhin mit dem Hackebeilchen auf ihn loszugehen. Dieser nicht zu bändigende Björkman und der feinsinnige, präzise André Jung treiben sich die Spirale immer weiter hinauf – hier haben sich zwei herausragende Schauspieler gefunden, die sich befeuern, anstiften, mitreißen, wie ich das selten gesehen habe.

Foto: Lennart Laberenz

Und was soll das Ganze? Man kann es nicht erklären. „Kristian Smeds weiß das auch nicht“, wird Eeva Bergroth später sagen. „Er kann nicht sagen, warum es diese oder jene Szene gibt. Er weiß nur, dass es so richtig ist.“ Seit Mai probt das finnisch-ungarisch-estländische Smeds-Ensemble in München (hier der Probenbericht von Tobi Müller), nur unterbrochen von der Sommerpause. „Wir hatten etwa 50mal so viele Szenen zur Auswahl.“
In der Pause bin ich unschlüssig: Sind die Szenen nicht beliebig aneinandergereiht? Ist das nicht pathetisch und geschmacklos? Den deutschen Schauspielern ging es zum Teil ähnlich. „Vor dem Sommer gab es eine schwierige Phase, weil die Antwort ausblieb, wohin das alles führen soll“, so die Produktionsleiterin. Derart lange, kräftezehrende Probenzeiten – wofür das alles? Aber mit dem Kopf kommt man Smeds einfach nicht bei, mit Fragen nach dem Endprodukt erst recht nicht. Der Prozess steht im Vordergrund (hier der Proben-Blog) und die unmittelbare Wirkung, das Zusammenspiel mit dem Zuschauer. Die Eindrücke rutschen dann im besten Fall direkt in die Eingeweide. „Mein Theater ist eine Volkssauna und der Ofen mittendrin ist die Bühne“, hat Smeds mal in einem Interview gesagt. „Es wird so lange Dampf gemacht, bis alle in Schweiß ausbrechen.“

Im zweiten Teil des Abends ist alles anders. Wir schauen direkt auf die Unterbühne hinab, der Bühnenboden ist offen. Dort unten brennen Kerzenleuchter wie in einem Toten- oder Zwischenreich, einem Kerker, einem Ort der Buße. Auf dem Vorhang oben die Projektion eines Schneegestöbers, dann die Übertragung dessen, was unten am Tisch passiert, in schwarzweiß, wie aus einem uralten Film. Eine anstrengend pathetische Klaviermusik überdeckt diese letzte Stunde leider pausenlos, schade. Am Tisch die Schauspieler, sie lesen aus „Verbrechen und Strafe“ vor: Raskolnikows grausame Theorie vom Übermenschen, von Menschenmaterial; Sonjas Forderung nach Sühne; die Passage vom verzweifelten Am-Leben-Hängen. Und auch: die Bibelgeschichte von der Auferstehung des Lazarus. Erlösung aber gibt es keine: „In allen Ecken Spinnen – und das ist dann die ganze Ewigkeit“, heißt es am Ende. Die Techniker legen den Boden wieder über die Bühne, durch einen letzten Schlitz krabbelt auch der Direktor nach unten – und der Sargdeckel schließt sich.

Die Crew feiert später, wie Finnen so feiern: Mit lauter Musik und viel Whisky und noch mehr Bier. Auch so ein Klischee, das sich bewahrheitet. Es soll weitergehen mit der Zusammenarbeit, erzählt Bergroth noch: Johan Simons, der Intendant der Kammerspiele, fährt bald nach Helsinki, um dort mit Smeds am Nationaltheater zunächst Workshops zu geben.

Am nächsten Morgen, auf dem Weg zum Frühstück, ganz unvermittelt: Der rothaarige Horrorclown in meinem Kopf. Die Erinnerung daran, wie er mit aller Sorgfalt seine Playmobil-Menschen aufsammelt, küsst – um sie dann lustvoll, mit großem Knall auf den Boden zu schmettern. Das ist das Unheimliche und Starke am Smeds-Theater: Die Bilder wird man nicht mehr los. Sie wirken nach. Und irgendwann entfalten sie einen Sinn.

Foto: Lennart Laberenz

Tags: , , , , , , , ,

0 Comments

leave a comment

You must be logged in to post a comment.