Fatzer ist über die Alpen gegangen. Nach den Fatzer-Festspielen in Berlin, ist Brechts von Widersprüchen nicht nur besoffene, sondern bis in die Form verwundete Fragment über vier Kriegsdeserteure in Turin angekommen. Für das Teatro Stabile, kein kleines Theater, ist dieser Austausch wichtiger als für die Volksbühne in Berlin, das kriegt man vor Ort sofort vermittelt. Man giert nach Austausch. In Italien sind die Theater angewiesen auf kleine Tourneen, sonst sind die Produktionen manchmal nach zwei Aufführungen schon weg. Und der Ruf der Volksbühne reicht mindestens bis nach Turin, besonders jener von Frank Castorf (den man in Berlin leider nicht zu Gesicht bekommen habe, sagen manche der überaus höflichen Italiener). Und auch wenn man das in den in den unter Druck geratenen Schauspielhäusern nicht gerne hört: Die Verhältnisse, um anspruchsvolles Theater zu machen und darüber nachzudenken, sind in Deutschland einmalig. Soweit der materialistische Kunstrahmen für die Fatzer-Begeisterung der Torinesi.

Turin in Technicolor

Nicht jeder Grund für die Turiner Fatzeriade leuchtet sofort ein, wenn man als Tourist, noch benommen vom sonnigen Alpenflug, im verschneiten Turin eincheckt. Der Stein, der Marmor, die Boulevards, die Plätze, diese ganze unzerstörte Baumasse der letzten zweihundert Jahre, und immer wieder: die nahen Alpen. Turin erscheint reich und schön und auf den Straßen gibt es überall Bücher zu kaufen. Was will man da mit diesem Brecht, der im Fatzer wie der Teufel ringt mit der Dynamik von Individuum und Gemeinschaft wie später nie mehr so deutlich, so experimentell, so unfertig, so verzweifelt?

Am Abend treffen wir uns im Goethe-Institut, dessen Leiterin Jessica Kraatz Magri die Kommunikation zwischen Berlin und Turin maßgeblich ermöglicht hat und dafür sorgte, dass auch die Universität den Fatzer mit einer Tagung willkommen heißt. Das Goethe-Institut liegt an der Piazza San Carlo, mittendrin, Patrizierhaus, höhere Räume als in Berlin-Prenzlauer Berg oder Charlottenburg. Wir sind an der Vernissage für eine kleine Fotoaustellung, Franziska Hauser aus Berlin und Eva Frapiccini aus Turin haben jeweils Orte inszeniert, wo der Lack fehlt und wo sich die Apokalypse, die Brecht beschreibt, vorstellen ließe, allerdings in etwas gar schönen blass-patinierten Farben. Dass man in Berlin genug Brachen und Abbruchmaße findet, ist klar. Aber es gibt sie auch in Turin. Die Stadt ist so gut wie pleite – das reiche Turin, Home of Fiat und Nutella. Italien überlegt sich nicht zum ersten Mal, aber nun ernsthaft, die Provinzen abzuschaffen, weil man sich Einsparnisse erhofft. Das heißt, man schafft nicht die Verwaltung ab, sondern beschneidet bloß ihre Macht. Gleichzeitig hat die Linke in Kalabrien, im traditionell konservativen Süden, erstmals wieder Wahlen gewonnen, und zwar mit einem offen schwulen Spitzenkandidaten. Auch in Italien kehrt sich vieles um, fällt vom Kopf auf die Füße oder von den Füßen auf den Kopf, wer weiß das schon.

Auf dem vielen dicken Stein sehe ich mit der Zeit die vielen linksextremen Graffiti. Ich esse noch kurz und und sehr gut in einem alten Ristorante in der Nähe des Flusses, gehe durch die massiven Arkaden in Richtung Cavallerizza, zur alten Reitschule und zu den Stallungen, in denen das Teatro Stabile untergebracht ist. Der Ruf, der diesem Nationaltheater vorauseilt – nach Mailand und Rom ist es das drittgrößte – entspricht nicht dem Bild, das ich zuerst auch gar nicht finde. In einem abgerissenen, komplett kahlen und werbefreien Innenhof drehe ich mich im Kreis, Obdachlose schlafen vor der einen Wand, in Pappe eingewickelt. Doch da weht eine deutsche Fahne. Ich bin richtig. Und Fatzer wohl doch auch. Es kann losgehen.

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