“Waren Sie drin? Wie fanden Sie es?” fragt eine junge türkische Frau an der Theke der Jackson Pollock Bar. Die zweite Vorstellung von Mehmet Ali Alaboras “Reporter”-Performance im Kleinen Haus des Theaters Freiburg ist zu Ende, und vor dem Beginn der Diskussion über die “Türkei heute” gibt es eine Getränkepause. Die Frau sitzt auf dem Barhocker und schüttelt die üppig gestylten Locken. Auch ihr Begleiter ist auffallend gut zurechtgemacht. “Wir waren schon gestern da, und es hat uns gar nicht gefallen. Mehmet Ali reißt die Themen nur an und zeigt alles in einem viel zu negativen Licht. Sicher ist nicht alles gut in der Türkei, uns gefällt es ja auch nicht, aber gerade jetzt, wo Istanbul Kulturhauptstadt ist, kann man doch auch einmal die schönen Seiten zeigen. Na, wir sind nochmal hergekommen, um zu hören, ob hinterher etwas anderes gesagt wird als gestern.”

Gestern gab es ein Gespräch mit den Künstlern, heute sind Ibrahim Sarialtin, Fatma Sağır und Prof. Christoph Neumann zu Gast: ein türkischstämmiges Gemeinderatsmitglied der Grünen, eine Islamwissenschaftlerin aus Freiburg und ein Turkologie-Professor aus München. „Wer kämpft zur Zeit eigentlich gegen wen?“ fragt Viola Hasselberg, die Schauspielchefin des Theaters Freiburg, ihre Gäste zu Beginn. Und erhält von Sağır und Neumann Antworten, die das Feld für Außenstehende so gut schraffieren, wie es eben zu gehen scheint.

Kampf um die Deutungshoheit

Es handle sich, lassen sich beider Positionen vielleicht vereinfacht zusammenfassen, nicht um einen Kampf zwischen demokratischen und undemokratischen Kräften, sondern um die Deutungshoheit, wer eigentlich zum Volk zu zählen ist, von dem laut Verfassung die Regierung auszugehen hat. Um den Versuch der bisher Ausgeschlossenen, an der Macht teilzuhaben und um die Anstrengungen der Verlierenden, sich in immer neue Positionen zu retten. Von der konzeptionellen Widersprüchlichkeit ist die Rede, aber auch von der überbordenden Kreativität, mit der immer wieder Lösungen gesucht würden.

Szenenfoto aus "Schnee" von Orhan Pamuk im Theater Freiburg, Foto: Maurice Korber

 

Das überwiegend türkischstämmige Publikum hält sich zurück. Auch denjenigen, die bei der türkischen Nationalhymne noch aufstehen, dürften die deutschen Verhältnisse mittlerweile vertrauter sein als die am Bosporus. Wenn einer aber das Wort ergreift, tut er es gleich heftig und im Ton der Anklage, wie der junge Mann, der dem Podium vorwarf, “um den heißen Brei herumzureden” und etwa den konkreten Einfluss des CIA nicht zu benennen.

Auch als Viola Hasselberg am Ende das gemeinsame Projekt des Theaters mit Künstlern der garajistanbul vorstellt, das “Cabinett”, bei dem sich die Beteiligten für eine gemeinsame Premiere im Oktober mit jeweils zehn Ikonen der anderen Gesellschaft auseinandersetzen, gibt es immer wieder Unmuts- oder Begeisterungsäußerungen, denen aber keine Konkretisierung folgt.

Bülent Ersoy und Joseph Goebbels…

Dass eine Auswahl, die repräsentativ sein will, auf Kritik stößt, ist klar. Notwendigerweise sind beide Gruppen – die deutsche um Viola Hasselberg und den Regisseur Peter Kastenmüller, die türkische um das Regie-Ehepaar Mustafa und Övül Avkiran – von ihren eigenen Landesbildern und Lebensläufen ausgegangen, bei den Freiburgern war auch ein lokaler Bezug maßgeblich.

Die deutschen Figuren im theatralen “Cabinett” sind: Papst Benedikt, Joseph Beuys, Marlene Dietrich, Gudrun Ensslin, Joseph Goebbels, Martin Heidegger, Helmut Kohl, Jan Ullrich, Christoph Schlingensief und Alice Schwarzer. Leute aus dem Osten fehlen, und ob ein faschistischer Machtpolitiker oder ein Doping-Star zur Ikone taugen, hängt davon ab, wie man “Ikone” definiert.

Die türkische Auswahl ist jedoch mindestens ebenso brüchig: Die transsexuelle Sängerin Bülent Ersoy wird im Bild gezeigt, der Komödiant Kemal Sunal (1944-2000), der ehemalige Präsident Turgut Özal (1927-1993), die Popmusikerin Ajda Pekan, die feministische Autorin Duygu Asena (1946-2006 – nein, von ihr fehlte das Foto), der vor drei Jahren ermordete armenische Journalist Hrant Dink, der Fußballer Tanju Colak, der Arzt und Universitätreformer Ihsan Doğramacı, der 1972 hingerichtete kommunistische Studentenführer Deniz Gezmis und der Soziologe Ziya Gökalp (1875-1924).

Um die Leute nicht mit dem Gegrummel zu entlassen, das sich teilweise erhoben hat, steht am Ende schnell die Schauspielerin Bettina Grahs auf, die zum deutschen Team gehört, und ruft der sich auflösenden Menge zu, dass, wer mit den Theaterleuten über das Projekt sprechen wolle, bei ihr gerne seine e-Mail-Adresse hinterlassen könne.

Wie sprechen?

Denn das Gespräch mit den türkischen Freiburgern ist vom Theater unbedingt gewollt. Seit der Inszenierung von Orhan Pamuks “Schnee” (eine Produktion von 2008, die 2009 auch in Istanbul gastierte), hat sich Viola Hasselberg, wie sie im Gespräch sagt, immer weiter mit dem türkisch-deutschen Verhältnis auseinandergesetzt. Ganz ohne biografische Motive, das habe sich einfach so entwickelt. Inzwischen hat sie Kontakt mit den türkischen Kulturvereinen in Freiburg aufgenommen, dem Podiumsgespräch zur “Türkei heute” sollen weitere folgen, auf einem Bildungsreiseangebot nach Istanbul findet sich das Logo des Theaters, und auch einer Aufführung von Derwischtänzen im Rahmen des Türkeischwerpunktes im Herbst steht prinzipiell nichts entgegen.

Ob aber eine allgemein steigende gegenseitige Wahrnehmung tatsächlich in ein Gespräch münden kann (in ein echtes, bei dem man genau weiß, in welchen Punkten man übereinstimmt und in welchen nicht), wird die konkrete Arbeit mit den türkischen Künstlern erweisen. Keiner im deutschen Team spricht Türkisch, und Mustafa Avkin zwar etwas Deutsch, Övül Avkin dafür weder dies noch Englisch.

Als der Bühnenbildner Michael Graessner bei einer Teamsitzung am Samstagnachmittag einen Bühnenvorschlag erläutert und dazu zunächst ein Blatt mit einer Linie auf den Tisch legt, sagt er: “Eine Linie ist ein Gang. Oder ein Satz, der hier anfängt und dort endet.” Da lacht Mehmet Ali Alabora und korrigiert: “Bei uns ist ein Satz eher ein Kreis. Man kommt immer da an, wo man schon begonnen hat.” Und Mustafa Avkin ergänzt, dass das Türkische eine Sprache für Gefühle sei, für Poesie. “Für die Konzeptarbeit”, fasst Alabora zusammen, “brauchen wir wohl weiterhin das Englische.”

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