Exkursion entlang der Grenzen: Jana Nagulina und Nora Schiller beim Workshop zum "Borderlines"-Projekt in Berlin, Foto: Theater an der Parkaue

 

Borderlines heißt das Projekt des Berliner Theaters an der Parkaue mit dem West Yorkshire Playhouse in Leeds. Auf der Grundlage von zwei Workshops mit Jugendlichen aus beiden Städten wird ein Jugend-Stück geschrieben, das mit je zwei deutschen und zwei englischen Schauspielern inszeniert und im nächsten Frühjahr erst hier, dann dort gezeigt wird. Die Autorin ist die Britin Aisha Khan, Regie führt Lajos Talamonti aus Berlin.

Grenzverläufe, Abgrenzungen. Die – 20 Jahre Mauerfall! – Ost-West-Grenze natürlich. Dass diese für die Berliner Jugendlichen kein Thema ist, haben Talamonti und die Dramaturgin Anne Paffenholz, die das Projekt von deutscher Seite leiten, nach den ersten Begegnungen mit ihrer Gruppe schnell festgestellt. Wobei es durchaus wichtig sei, wo wer herkomme. Aber dabei zähle der Bezirk an sich und nicht seine geopolitische Lage.

Aufbrechen, abheben, schweben

Auch zwischen den deutschen und englischen Jugendlichen gibt es auf den ersten Blick mehr Verbindendes als Trennendes, wie sich beim Berliner Workshop im Oktober zeigte. „Die Jugendlichen haben gesagt: Wir sind uns so ähnlich. Wir sind alle bei Facebook, wir ziehen die gleichen Klamotten an, wir hören die gleiche Musik, wir erzählen die gleichen Witze in unterschiedlichen Sprachen“, sagt Anne Paffenholz beim Interview in einem Besprechungsraum des Theaters an der Parkaue. 

Lajos Talamonti, Foto: Theater an der Parkaue

 

Das staatliche Jugendtheater Berlins zeigt auf seiner Flagge ein programmatisches Flugzeug-Piktogramm: Aufbrechen, abheben, schweben. Es ist kein Haus, das die Didaktik pflegt, sondern Kinder und Jugendliche mit einer ähnlichen Formenvielfalt konfrontiert, wie es sie auch im deutschschprachigen Erwachsenentheater gibt. Der Volksbühnenschauspieler Milan Peschel hat hier zweimal inszeniert und das Performerkollektiv Showcase Beat le Mot zeigt mit den „Bremer Stadtmusikanten“ Ende März seine dritte Produktion.

Auch Lajos Talamonti bringt eine eigene, grenzüberschreitende Ästhetik mit. Der 1969 in München geborene Regisseur ist ausgebildeter Tänzer, ist Schauspieler, Stadtraumerkunder und Projekteerfinder. An der Parkaue hat er bereits das Jugendstück Alkohol! erarbeitet. Mit Filmkameras und Live-Musik auf der Bühne.

Viele waren zum ersten Mal im Ausland  

Bei dem Workshop im Oktober haben Talamonti und Paffenholz die Jugendlichen auf Exkursion entlang der ehemaligen innerberliner Grenze geschickt. Mit Fotoapparat und Aufnahmegerät. Das war für beide Gruppen gleichermaßen eine Fortbildung in Sachen deutscher Geschichte. Wobei sich zeigte, dass die englischen Teens nicht so straff in die Arbeit eingebunden werden konnten wie die deutschen. Denn viele von ihnen waren zum ersten Mal im Ausland und hatten auch diesseits des Theaterraumes Erfahrungsbedürfnisse.

Sowieso kämen sie sozial aus deutlich schwächeren Verhältnissen und es mangele eklatant an Bildung: „Da ist“, sagt Anne Paffenholz, „mir teilweise der Unterkiefer heruntergeklappt, welches Wissen da einfach nicht vorhanden ist: Was ist eine Diktatur? Zweiter Weltkrieg? Was ist denn da passiert?“

Gleichzeitig hätte die englische Gruppe eine größere Energie mit in die Arbeit gebracht. „Sie sind durchlässiger“, beobachtete Talamonti. „Alles Emotionale wird schneller und auch klarer ausgedrückt.“ Und Anne Paffenholz ergänzt: „Die Jugendlichen aus Leeds hatten auf der Bühne eine größere Präsenz. Man hatte den Eindruck, dass es ihnen wirklich um etwas geht.“

Verteidigung und Erweiterung der eigenen Grenzen

Ob das auch daran gelegen haben mag, dass sie hier in Berlin quasi in Klausur waren, während ihre deutschen Kollegen neben den gemeinsamen Aktivitäten noch ihr normales Leben verfolgten, wird sich beim Gegenbesuch im April in Leeds zeigen. „Wenn die uns durch ihre Stadt führen, stellt sich das Thema Grenzen sicher noch einmal ganz anders“, vermutet Anne Paffenholz.

Und nicht zuletzt ist auch die binationale künstlerische Verantwortung für das “Borderlines”-Projekt ein Experiment, bei dem es um die Verteidigung und Erweiterung der jeweils eigenen Grenzen geht.

Anne Paffenholz: In dem, was man Jugendlichen zutrauen kann, was man ihnen vorgeben oder vielleicht auch verbieten muss, sind wir Deutsche deutlich lockerer. Die Kollegen aus Leeds sind viel vorsichtiger und hatten manche Schwierigkeiten mit uns.

Lajos Talamonti: Wir leben in Berlin wirklich in einer avantgardistischen Stadt, und auch die Jugendlichen haben schon eine Erfahrung mit ästhetisch anspruchsvolleren Formen. Wobei ich den Eindruck hatte, dass die Jugendlichen aus Leeds damit auch sehr gut umgehen konnten – wenn man sie gelassen hat.

Anne Paffenholz: Den Kollegen aus Leeds ging es vor allem darum, dass die Jugendlichen in jedem Moment eine gute Zeit haben. Denen wurde nichts abverlangt, sondern man ging jede Minute mit ihnen auf Tuchfühlung um herauszufinden, was sie jetzt gerade brauchen.

Lajos Talamonti: Und ästhetisch merkt man eben doch, dass dort alles privatwirtschaftlich organisiert ist. Es gibt so ein dienstleisterisches Selbstverständnis, der Unterhaltungsaspekt steht im Vordergrund. Sie haben einen größeren Legitimationszwang als wir hier, die wir uns als künstlerische Produktionsstätte begreifen, und vor dem Tor zur Kreativität steht ja bekanntlich Pein und Qual drüber und nicht Spaß und Lockerheit. Man muss Sachen wagen und ausprobieren und sich dabei zusammenreißen, diszipliniert sein und durchhalten.

Bedenken, dass sich die Arbeit am Stück in eine Richtung bewegen könnte, die nicht die ihre ist, haben Paffenholz und Talamonti indessen nicht. Aisha Khan sei sehr offen und an Austausch interessiert. Und schließlich sei der Workshop zwar als Recherche und Auseinandersetzung mit der Zielgruppe des Stückes zu betrachten, aber noch lange nicht das Stück selbst. „Dass wir hier mit 14- bis 17-jährigen Jugendlichen arbeiten, heißt nicht, dass nachher auch 14- bis 17-jährige Jugendliche als Figuren auf der Bühnen stehen werden.“ (Lajos Talamonti)

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