Im September dieses Jahres machten sich Schauspieler und weitere Vertreter des Theater Osnabrück auf den Weg nach Bulgarien, zum dritten Teil der deutsch-bulgarischen Kooperation Die Stimmen von Russe.
Die sechstägige Gastspielreise führte uns nach Ruse und in die Schwarzmeerstadt Varna. Vor ausverkauftem Haus gaben wir in Ruse zwei Vorstellungen von Fassbinders “Katzelmacher”. Um die Vorstellungen herum gab es ein Rahmenprogramm, u.a. betreute die Osnabrücker Theaterpädagogik über vier Tage hinweg einen Jugendworkshop zum Thema “Vorurteile” und im Anschluss an die Vorstellungen konnten die Schauspieler auch ihr musikalisches “Können” während einer Karaoke-Party unter Beweis stellen.
Von Ruse ging es weiter nach Varna, wo ebenfalls vor ausverkauftem Haus “Katzelmacher” (bulg. Übersetzung: Gastarbeiter) gezeigt wurde.

In Bulgarien stießen wir neben sehr anregenden und warmherzigen Begegnungen zwischen Künstlern und Publikum leider auch auf ein sehr desolates Theatersystem und machten diese Misere mit Hilfe der mitreisenden Journalisten (u.a. Neue Osnabrücker Zeitung, Theater der Zeit) publik. Hier die Resolution des Deutschen Bühnenvereins vom 22.09.2010, den wir ebenfalls auf die Situation aufmerksam machten:

Bulgarische Theater kurz vor dem Aus – deutsche Landschaft angeblich Vorbild für “Reformen”!

Die bulgarische Theaterlandschaft erlebt derzeit die schlimmste Krise seit 1990 – wie es nach dem 1.1.2010 weitergehen soll, weiß momentan niemand. Seit Monaten können in vielen Theatern keine Gehälter mehr gezahlt werden, Massenentlassungen haben begonnen – erst gestern wurden im Theater Varna 73 Mitarbeiter entlassen. Dies geschieht im Namen von neuen “Reformen”, die das Ministerium für Kultur in Sofia in der Sommerpause beschlossen hat. Wie im August auf einer Pressekonferenz mitgeteilt wurde, sei ausgerechnet das deutsche Stadttheatersystem Vorbild für die massiven Umstrukturierungen in bulgarischen Theatern! Varna gilt als Pilotprojekt; hier wurden die erst seit 8 Monaten im Amt befindlichen Intendanten des Schauspielhauses und der Oper auf Direktorenposten ohne finanzielle Entscheidungsmöglichkeiten verwiesen, um einem Abgeordneten des Gemeinderats Varna und Sekretär der Unternehmer-Partei die Entscheidungshoheit über die beiden nun zusammengelegten Theater zu überlassen. Da die genehmigten monatlichen Ausgaben nicht einmal die Stromkosten für die Gebäude decken, macht das Theater täglich neue Schulden beim Ministerium in Sofia. Diese Maßnahmen betreffen alle Theater und Kultureinrichtungen Bulgariens, deren Erhalt und Förderbedarf durch keinerlei Gesetz geschützt wird. So wurden seit dem EU-Beitritt die Mittel für Kultur bereits um zwei Drittel im Vergleich zum Jahr 1990 gekürzt. Ab dem 1.1.2011 sollen weitere Reformen in allen Theatern Bulgariens durchgesetzt werden – die Spielpläne sind vielerorts nicht weiter als bis Dezember gemacht, aber schon jetzt können keine neuen Produktionen finanziert werden.
Wie ein derartiges Ausbluten der bulgarischen Theater mit Bezug auf das von Regierung und Bevölkerung in seinem Wert verstandene deutsche Stadttheatersystem begründet werden kann, ist unerklärlich! Wir fordern das Kulturministerium und die Regierung in Sofia auf, den drastischen Kulturabbau sofort zu stoppen! Wer den Theatern die finanzielle Unterstützung nimmt, nimmt seinem Land in der tiefsten Krise jegliche Möglichkeiten kultureller Identität und die Möglichkeiten einer bitter nötigen gesellschaftlichen Vision für die Zukunft.

Gegen die Behauptung, dass das deutsche Stadttheater-System Vorbild für den Abbau der bulgarischen Theaterlandschaft sei, protestieren die Vorsitzenden der Intendantengruppe des Deutschen Bühnenvereins Holk Freytag, Prof. Klaus Zehelein und Rolf Bolwin, in ihrer Resolution, die sie nach eigenen Angaben an die bulgarische Regierung geschickt haben.

Am Samstag, den 25.9.2010 fand dann im Gegenzug das bulgarische Gastspiel “Eine heikle Sache die Seele” von Dimitre Dinev in Osnabrück statt. Am Theater Russe inszenierte Boian Ivanov, der in Deutschland Regie studierte, diesen Abend:
Bauarbeiter Nikodim ist bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen. Charon verwährt dem Verblichenen in Geldnöten den Eintritt ins Totenreich. Seine Frau Pavlina engagiert ein professionelles Klageweib und eine ukrainische Stripperin zur fröhlichen Totenwache. Mit steigendem Alkoholkonsum verschwinden die Grenzen zwischen Leben und Tod.
Die Rolle des österreichischen Chefs übernahm der Osnabrücker Schauspieler Laurenz Leky, der während der Probenzeit 2 Monate in Russe lebte (siehe frühere Blogeinträge).
Beide Vorstellungen waren ausverkauft und erfreuten sich überregionalem Interesses – es reisten sogar bulgarische Studenten u.a. aus Münster, Köln und Bonn an und der Honorargeneralkonsul der Republik Bulgarien Herr Prof. Dr. Imeyer übernahm die Schirmherrschaft.
Im Anschluss an die Samstagabendvorstellung gaben Rashko Mladenov, Intendant des Theater Russe, und Izko Finzi, der Vater von Samuel Finzi und ebenfalls bekannter Schauspieler in TV, Film und Theater in Bulgarien, ein Konzert. In ihrer Heimat erlangten sie gemeinsam durch ihre Auftritte, in denen sie klassische Musik intelligent parodierten, großen Ruhm. Auch in Osnabrück kam das Konzert, das auf charmant Art und Weise alte Videoprojektionen aus “Sowjet-Zeiten” mit Live-Darbietungen am Klavier und Violine vermischte sehr gut beim Publikum an.

Momentan laufen die Vorbereitungen für die vorerst letzte Phase der auf drei Jahre angelegten Kooperation der beiden Theater. Der bulgarische Regisseur Ivan Stanev, der u.a. an der Berliner Volksbühne arbeitete, inszeniert die Produktion der Theater aus Osnabrück und Russe mit dem Arbeitstitel “Canetti-Projekt”, das sich mit dem Leben und Werk des in Ruse geborenen Nobelpreisträgers Elias Canetti auseinandersetzt. Vier deutsche und vier bulgarische Schauspieler proben gemeinsam in Osnabrück. Die Inszenierung ist in beiden Ländern zu sehen. (Premiere Osnabrück: 28.1.2011, Premiere in Russe: voraussichtlich Ende April 2011).

Tags: , , , ,

0 Comments

leave a comment

You must be logged in to post a comment.