Gestern in der Schaubühne, fast ein Monat nach der Premiere von „The Day Before the Last Day“: niemanden gekannt im Publikum. Kein Künstler oder Kritiker anwesend meines Wissens. Einer hat zwar auf dem iPhone Notizen gemacht. Im Foyer ist er mir schon aufgefallen, wie er mit dem Marker den Veranstaltungskalender einer Stadtzeitschrift bearbeitet hat, bevor er wieder ein französisches Buch las. Im Saal saß er denn auch noch neben mir und tauschte die Boss-Lesebrille mit dem Modell von Prada ein, um die Bühne besser zu sehen. Zwar würde ich nie Brillen dieser Marken tragen – mindestens die Namen würde ich am Seitenbügel wegschleifen lassen –, aber der Spott ergießt sich ja, wie der Neid, oft am liebsten über die nächst Ähnlichen. Notizen, Kulturprogramm, halbwegs modische Brille, fremdsprachige Bücher! Der Typ hat tatsächlich auch an den ähnlichen Stellen gelacht wie ich.

Warum ist mein Sitznachbar von Belang? Ist das ein Rückfall in das Klischee des ultrasubjektiven Feuilletonismus, mit dem man in den neunziger Jahren expermentiert hatte, als, das Klischee beginnt genau hier: als jeder Taxifahrer auf dem Weg ins Theater in der Kritik so viel Beachtung fand wie die Hauptrolle? Kann natürlich auch sein. Wichtiger schien mir gestern Abend aber die Frage, welches Publikum sich von dieser Produktion wie angesprochen fühlt. Wo man auf Distanz gehen kann, wo einem eine Haltung abverlangt wird und wo man kurz irritiert wird, um einen Gedanken mitunter in Vibration zu versetzen. Ich glaube, wir waren uns gestern Abend alle viel zu einig, also viel zu ähnlich. Dass der Fundamentalismus (aller anderen) ein Problem darstellt, insbesondere für den Nahen Osten, dass man (allen anderen) aber auch Verständnis entgegen bringen muss für deren Religionsbedürfnis, und dass der eigene Konsumismus bestimmt auch eine religiöse Dimension hat. Darüber haben wir herzlich gelacht. Und dagegen gibt es auch gar nichts zu sagen (auch weil das zugkräftige Ensemble viele Humor-PS hat). Es gibt in Deutschland noch immer einen kritizistischen Reflex der Hochkultur, Humor und Kalauer als oberflächlich abzutun. In solchen Fällen verteidige ich den harten Humor gerne und meine, dass gerade interkulturelle Projekte ohne ihn nicht möglich sind.

Geradezu interessant – oder interessantizistisch? – fand ich gestern aber den vermuteten Grund, warum mir und meinem Nachbarn und der halben Schaubühne so wohl war. Es hat einer gefehlt. Knut Berger konnte nicht spielen, wegen eines Notfalls, wie die Dramaturgin vor der Vorstellung sagte. Es stimmt, ich habe Berger in der einen Probe, die ich besucht habe, sehr gern zugeschaut. Seine Figuren haben so eine überzeugende, grundsympathische Freundlichkeit, die plötzlich unangenehm werden kann. Aber darum geht es nicht. Es geht, wenn man will: um das kulturelle Gleichgewicht des Schreckens, das dieser israelisch-arabisch-deutsche Abend ganz gut in der Balance hält. Berger hatte in der Probe auch dafür gesorgt, dass Typen wie ich kurz schlucken mussten. Dass die eigene Großzügigkeit gegen alle, auch gegen sich selbst, den Schatten des Zweifels erdulden musste. Ohne Berger konnte man sich einiges bequemer einrichten hinter dem Gestell von Prada, Boss oder ic! Berlin. Die Theater sagen das immer: jede Vorstellung ist anders. Meistens halte ich diese Differenzierungsmanie für überzogen und bin der Meinung, dass sich das meiste im Publikum unterschiedslos „versendet“. Gestern habe ich, weit weg von der Premiere, gesehen, wie sehr das ins Gewicht fallen kann.

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