Ein Pop-Konzert? Eine Revue? Ein Turnwettbewerb? Oder doch die Uraufführung eines Theaterstücks? „Yellow Line“ ist nicht nur eine Wanderlust-Produktion, sondern auch der abschließende Programmpunkt beim Festival „Theaterformen“ in Braunschweig – und der kroatische Regisseur Ivica Buljan hat seine Inszenierung ganz darin eingebettet: Hier liegt das Augenmerk zunächst einmal auf der Form, Theater auf die Bühne zu bringen.
Schon als die Zuschauer im Kleinen Haus des Staatstheaters Braunschweig freie Plätze suchen, spielen die Schauspieler aus Deutschland und Kroatien ein paar Klangfetzen auf der Gitarre, wiegen sich im Takt, trippeln auf und ab. Hinter ihnen ein großes Gemälde: Zwei Frauen liegen nackt im Gras, um sie herum weidende Kühe. Das Bild versucht einen losen Verweis auf den Inhalt des Stücks, das Juli Zeh und Charlotte Roos für die Kooperation zwischen dem Staatstheater Braunschweig und dem Theater z/k/m in Zagbreb geschrieben haben: Die weidende Kuh ist darin eine Art Sinnbild für das freie Leben, in dem Kühe noch Namen tragen und wo Mensch und Tier sich nicht dem Optimierungszwang und dem Anspruch an maximale Effizienz anpassen.
Doch Zehs und Roos’ Stück hat nichts mit einer nostalgischen Sehnsucht nach heiler, entschleunigter Welt zu tun – es ist viel mehr eine komische, kluge Abrechnung mit dem gefeierten Freiheits- und Demokratiestreben der Menschen. Anders als die Inszenierung erzählt das Stück ohne große formale Spielereien zwei Geschichten, die einander bedingen. Da ist Paul, der im Pauschal-Urlaub mit seiner Freundin Helene begreift, dass die sogenannten „Angebote“ von Animation, Ausflügen und Büffet-Zeiten nur der „Abrichtung und Gehirnwäsche“ dienen. Ihn stören die geschlängelten Wege in den Hotelanlagen, „weil sie nur geschlängelt sind, damit sie nicht gerade sind, aber dadurch sind sie noch viel gerader!“ Die titelgebende „Yellow Line“ ist die in der Sicherheitszone des Flughafens, die Paul trotzig überschreitet, weil das nur „zehn beliebige Quadratmeter auf diesem Planeten sind“ – nur eben etwas weiter nordöstlich. Helene dagegen verdient ihr Geld damit, sich als „Performance “ nackt in einen Käfig einsperren und als lebendes Kunstwerk versteigern zu lassen. Im Fernsehen sieht Paul dann die Kuh Yvonne, eine ungewöhnliche Freiheitskämpferin, die gegen alle Zäune anrennt. In Pauls anschließendem Versuch, wenigstens einem Wesen zur Freiheit zu verhelfen, verschränkt sich die zweite Geschichte des Stücks: Auf dem offenen Meer schlägt eine vom Himmel fallende Kuh in ein Fischerboot eines Arabers ein – und Frontex kassiert den unschuldigen Mann als illegalen Flüchtling.
Bei aller Absurdität stellen Roos und Zeh hier ganz grundlegende Fragen an unsere zivilisatorischen Grundwerte: Wie viel Freiheit braucht der Mensch? Wozu Freiheit, wenn wir sie in Pauschalangeboten und Massenveranstaltungen liebend gern wieder abgeben? Ist die Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie etwa hauptsächlich der bürgerlichen Sehnsucht nach Ruhe und Ordnung geschuldet? Und am komischsten: Sind wir in unserem Herdendrang nicht die viel größeren Rindviecher?
Die beiden Autorinnen sind das Thema „Achtung: Pioniere!“ der Kooperation zwischen Zagreb und Braunschweig sehr frei angegangen. Die Pioniere im Titel beziehen sich auf solche der Luftfahrt: Ferdinand Graf von Zeppelin ist eng mit dem Deutschen Luft- und Raumfahrzentrum Braunschweigs verbunden, Zagreb kann mit David Schwarz, dem Erfinder des ersten starren, lenkbaren Luftschiffs, aufwarten. Übrig geblieben von den Flugträumen ist in „Yellow Line“ nur die fliegende Kuh – und das ist absolut legitim. Nichts ist schlimmer, als wenn einem Text das krampfhafte Festhalten an einer Richtlinie abzulesen ist. Zeh und Roos schauen in ihrem Stück mit ganz eigenem, kritischen Blick auf das Demokratiestreben der arabischen Revolution und auf den bestehenden demokratischen Rechtsstaat in der westlichen Welt. Dabei gelingt ihnen etwas recht Seltenes: intelligente Unterhaltung.
Der Regisseur Ivica Buljan setzt in der Uraufführung nun ganz auf den zweiten Teil, auf die Unterhaltung. Die Schauspieler singen den Text oder sprechen ihn laut in kroatischer Sprache (mit Übertiteln), während sie Musik dazu spielen. Hinzu kommen anspruchsvolle Gymnastikeinlagen und geradezu akrobatische Turnübungen, die mir Respekt für die Schauspieler einflößen. Das hält den Abend zwar auf Temperatur – der Wortwitz, die vielen klugen Monologe, die spritzigen Dialoge stehen vor der großen Körperlichkeit aber zurück. Der „Herdenmanager“ und der „Zaunbauer“ aus dem Stück etwa präsentieren ihre wichtigen, großen Textpassagen als Musiknummer einer verruchten Rocklady und eines Cowboys auf der Bühne. Am meisten scheint Buljan die Liebesbeziehung zwischen Paul und Helena interessiert zu haben – hier zumindest dürfen dann auch melancholische Töne anklingen.
Warum es zur Zusammenarbeit zwischen Juli Zeh und Charlotte Roos kam und wie es gelingen kann, zu zweit ein Stück zu schreiben, das ganz aus einem Guss wirkt, erzählte mir Charlotte Roos im Interview. Morgen ist es hier zu lesen.