Der Fatzer-Stoff ist im deutschsprachigen Theater ein Mythos im eigentlichen Sinn. Ein Mythos, weil unentziffert. Es gibt vier- bis fünfhundert Seiten, aber kein Stück. Nicht von Brecht jedenfalls. Es gibt eine Fassung der alten Schaubühne, noch so ein deutscher Mythos. Und es gibt Heiner Müllers Bearbeitung. Müller, Master of Myth, der Herrscher über die Rückprojektion der deutschen Geschichte in die Unerbittlichkeit der Antike. Über Fatzer wird vor allem geraunt: Brechts Schock der Großstadt, als er nach Berlin kam; die Konsequenz des Umsturzes, seine Logik der immer neuen Ausgrenzung; das Verhältnis von Individuum und Kollektiv, das ist der Kern, der die berühmteren Lehrstücke wie „Die Maßnahme“ umtreibt. Ein Mythos bleibt nur so lange Mythos, wie an seiner Interpretation gearbeitet wird und er also unverstanden bleibt. Ich bin nicht sicher, ob das für Heiner Müller zutrifft. Oder auf die Figur Brechts. Sicher aber auf diesen einen Un-Text, das Fatzer-Fragment.

Wer Müllers Fassung liest, hört das ästhetische Familienverhältnis der beiden wichtigsten deutschen Theaterautoren des 20. Jahrhunderts einmal mehr sofort. Der Schrecken des Krieges wird einerseits ein Stück weit gebannt in der Sprache, und doch wieder in ihrer Deutlichkeit abgebildet. Man hört die Drastik dialektisch in der strengen Formalisierung mitzittern. In Pausen, Sprachbildern wie Kirchen, ein Denken und Schreiben, das die Abgeschiedenheit der Emigration – der äußeren bei Brecht, der inneren bei Müller? – vorwegnimmt. Die Geschichte der Deserteure, die aus dem Ersten Weltkrieg flüchten, die Revolution wollen und sogleich wieder scheitern, ist das Gegenteil des Geplauders.

Nun sehen wir aber italienische Schauspieler in der Volksbühne, sie kommen aus Turin, aus dem Teatro Stabile, und zeigen uns „Fatzer Fragment – Getting Lost Faster“ mit deutschen Übertiteln. Und es sieht, trotz einiger angedeuteten Tableaux vivants, die man auch von Müllers Inszenierungen oder mehr noch: von jenen Einar Schleefs kannte, es sieht einfach sehr, sehr anders aus. Wo kein Text mehr hilft, wird improvisiert. Für deutschsprachige Ohren oft: wortreich charmiert. Man gibt sich diesem Sound hin, der die Melodie stärker gewichtet als das Deutsche mit seinen harten Rhythmen, zumal wenn sie im Vers gehalten werden wie bei Brecht/Müller. Das Italienische wirbt um den Hörer, um das Deutsche muss man als Hörer selbst werben. Das ist eine ungewöhnliche, im Sinne der Unterbrechung des Bekannten, des vermeintlich Verstandenen auch: eine sinnliche Erfahrung. Die Revolution als Casting Show mit dem Publikum, die Musik als oft romantisches Elektro-Intermezzo: Der Text, und es ist viel Text, erscheint so nicht als Evangelium, sondern als Projektion. Für Müller war es die RAF. Für die Turiner sind es die kommenden Aufstände unserer Zeit. Dass man zwischen diesen Klängen und Improvisationen auch immer wieder den Text nach dem Buchstaben zu spielen versucht und auf dieser großen, Brecht- wie Müller-gestählten Bühne nur schwerlich durchdringt, ist am Ende vielleicht nebensächlich.
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VOLKSBÜHNE italienisch beflaggt! Berliner und Turiner Theatermacher treffen sich zum FATZER MATERIALLAGER 19. bis 21. Januar 2012

Seit Ende November laufen die Proben in Turin zur italienischen Uraufführung des Fatzer-Fragments von Brecht. Es sind sehr intensive Tage – Tage, wo das sich-am-Text-Erproben über die Probezeit hinaus geht. Das lässt sich wahrscheinlich immer mehr oder weniger erfahren, wenn man an einer Inszenierung arbeitet, wie bei jeder kollektiven Arbeit, wo der Einsatz vieler Intelligenzen und Wahrnehmungsweisen tatsächlich erforderlich wird. Sinnvoller Zufall: Wir machen Theater in einer stillgelegten Fabrik. Nach einer Woche im Teatro Stabile im Turiner Zentrum, proben wir seit Anfang Dezember in der Fonderie-Limone in Moncalieri, in der südöstlichen industriellen Peripherie von Turin. Diese Außenstelle, die das Teatro Stabile aus einer ehemaligen, vor dem ersten Krieg stammenden Gießerei bekommen hat, ist mit ihren sanierten Fabrikanlagen, Hochöfen und Schlafkasernen unser Mülheim geworden: Das Loch, aus dem Fatzer aus dem ersten Weltkrieg, der unsere Zeiten eingeleitet hat, in die Gegenwart herauszukriechen versucht.
Die ersten Tage sind die der kollektiven Begegnung mit den Worten gewesen. Es war eher ein Zusammenstoß, ein Eisenbahnunglück, zu dem man sich verabredet hatte. Trotz seiner erarbeiteten Einfachheit ist es einer der schwierigsten Texte, wie die Schauspieler und Mitarbeiter gestehen müssen, mit denen sie sich jemals auseinandergesetzt haben. Natürlich kommt alles Wissen und Verstehen, das man beim ersten individuellen Lesen und Überlegen gesammelt zu haben schien, wie üblich durcheinander. Mit einem aber diesmal vielleicht merkwürdigen Gefühl: als gehe man durch das Trümmerfeld und die Wüste des eigenen lückenhaften Wissens und unterbrochenen Verstehens herum, nur der Text bleibt in seiner fragmentarischen Perfektion erhalten, bei jedem Rundgang, bei jeder Invasion weniger fremd aber gleich fern. Wir merken bald, es geht nicht so sehr darum, den Text zu „verstehen“, sondern darum die Orte unserer „Wirklichkeit“ zu finden, die der Text am meisten verklärt. Wo versteht uns Fatzer besser, als wir uns selbst verstehen. Wir haben den erschreckenden Eindruck, wie viel und wie fachkundig man heute wissen und verstehen müsste, um auf das Leck in den fachkundigen Darstellungen der „Wirklichkeit“ auch nur hinweisen zu können (selbst wenn es nur um Theater geht).
Eines Abends beim Autofahren von Turin nach unserem „Mülheim“ zurück, erzählt der Rundfunk von der Katastrophe in den genauesten, selbstreferenziellsten, technisch-ökonomischen Wörtern und über die globalisierte Protestbewegung in den begeisterndsten und selbstgenügsamsten Slogans. Wir sitzen von langen Proben und Versuchen ermüdet eng, hungrig und erkältet im Auto und haben keine Lust, keine Energie mehr, auch nur den Kanal zu wechseln. Nur Werner, einer unserer Fatzer-Masken, der in seinem deutsch-muttersprachlichen und überlegenden Ton sich fremd genug anhört, als ob er uns auch aus einer anderen Zeit redete, bemerkt leise vor sich hin: „tutti parlano a cazzo di tutto“. „Man schwatzt überall Scheiße über alles“.

(Milena Massalongo)

Milena Massalongo ist als Dramaturgin für das Teatro Stabile di Torino, dem Partnertheater der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin, in der Inszenierung “Fatzer Fragment / Getting lost faster” (Regie: Fabrizio Arcuri) tätig. Das Projekt wird am 20. Januar 2012 in der Volksbühne erstaufgeführt. Von Milena Massalongo stammt außerdem die erste italienische Übersetzung von Brecht/Müller “Der Untergang des Egoisten Fatzer”.

www.volksbuehne-berlin.de

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