von Anne Paffenholz, Dramaturgin & Theaterpädagogin

Tour Guides at the Border Control: Borderlines-Werkstatt-Präsentation am West Yorkshire Playhouse in Leeds (April 2010)

Da man ja am Jahresende gerne dazu neigt, das zu Ende gehende Jahr in Rückblicken Revue passieren zu lassen, hier eine Rückblende auf’’s vergangene Frühjahr:

Im April dieses Jahres bin ich mit zehn Jugendlichen (zwischen 16 und 20 Jahren) nach Leeds gefahren. Vor uns lag die zweite Borderlines-Werkstattwoche mit den gleichaltrigen Jugendlichen aus Leeds. Im Oktober 2009 hatten wir schon eine Woche zur Berliner Mauer gearbeitet. Diesmal sollte die Grenzrecherche auf weitere Aspekte (persönliche, soziale, kulturelle Grenzen) ausgedehnt werden.

Mindestens zwei Teilnehmer machen ihre Grenz-Erfahrungen im wahrsten Sinne des Wortes bereits vor bzw. während der Reise: Ein Jugendlicher fliegt das erste Mal und ist erstaunt, wie aufwendig die Abfertigung und die Sicherheitskontrollen sind. Die Schere in seinem Handgepäck wird zwar gefunden, aber er darf sie erstaunlicherweise trotzdem mitnehmen (wir brauchen sie später, um den eingeschweißten Kuchen im Lunchpaket aus der Plastikverpackung zu lösen). Eine andere Teilnehmerin wusste bis einige Tage vor dem Abflug nicht, ob sie dabei sein kann oder nicht: Sie braucht ein Visum. Das trifft am letzten möglichen Tag endlich ein – nach vielen Telefonaten, einem Termin in der britischen Botschaft, der Beantwortung von 97 Fragen, der Bezahlung einer beträchtlichen Gebühr und Vorlage der Verdienstbescheinigung der Eltern über die letzten drei Monate. Bei der Ankunft am Flughafen Liverpool muss sie sich am Schild “UK Border” (das man leider nicht fotografieren darf) in die Schlange “nicht-EU-Staatsangehörigkeit” stellen. Als Einzige muss sie ihre Fingerabdrücke und Informationen über ihren Aufenthaltsort in England hinterlassen – und die Buchungsbestätigung für den Rückflug vorzeigen. Ich bin unglaublich erleichtert, als alle zehn Jugendlichen (jeder an einem anderen Schalter) endlich die Grenze passiert haben und wir die Reise nach Leeds fortsetzen können. Beim Wiedersehen mit den englischen Jugendlichen gibt es ein Riesenhallo, stürmische Szenen und Jubelschreie vor lauter Freude. Das gemeinsame Arbeiten funktioniert einfach und unkompliziert, als wenn sich alle nicht vor sechs Monaten, sondern in der Woche davor das letzte Mal gesehen hätten.

Bei der Abschlusspräsentation der Werkstattwoche laden wir das Publikum auf eine Zeitreise in eine postapokalyptische Welt ein. Um unsere postapokalyptische Rauminstallation betreten zu dürfen, muss jeder Zuschauer zunächst die Grenzstation mit Passkontrolle hinter sich bringen. Zur Einreise ist die Erfüllung verschiedener Aufgaben nötig, wobei wir glücklicherweise auf das Expertenwissen unserer Teilnehmerin zurückgreifen können. So werden die Erfahrungen bei der Einreise nach Großbritannien als Recherchematerial gleich theatral (und dem Thema angemessen) verwertet.

Beide Borderlines-Werkstattwochen mit den Jugendlichen, sowohl die in Berlin als auch die in Leeds, zeigen vor allem eins: Die Jugendlichen interessieren sich zwar für alles, was im Partnerland und Partnertheater anders ist und nehmen neugierig jegliche Unterschiede zur Kenntnis. Noch mehr suchen sie allerdings nach dem Gemeinsamen und Verbindenden – grundsätzliches Nicht-Verstehen oder kulturelle Missverständnisse gibt es bei ihnen (anders als bei uns Erwachsenen) so gut wie gar nicht. Das finde ich großartig.



Tags: , ,

0 Comments

leave a comment

You must be logged in to post a comment.