Über zwei interkulturelle Theaterproduktionen zwischen Freiburg und Istanbul

von Viola Hasselberg, Dramaturgin

Zuerst klingt es immer nach einer Ver­heißung: internationale Projekte, die Auseinandersetzung mit einer anderen Kultur – Neugier, Exotik und auch ein bisschen Lampenfieber, wie vor einer großen Reise. Es gibt wenige Vorbilder und solche Produktionsformen gehör­ten bisher nicht zum Kerngeschäft ei­nes Stadttheaters. Das Theater Freiburg hat zwei solcher Produktionen, ausge­rechnet mit der Türkei und mit Israel, für die nächste Spielzeit begonnen, als Ausgangspunkt einer Auseinanderset­zung, die grundsätzlicher und länger­fristiger ist: In welchen Kulturen leben wir bzw. mit welchen gestalten wir eine gemeinsame Gesellschaft, die längst nicht mehr einer „Leitkultur“ unterliegt? Und was hat das für Auswirkungen auf das Stadttheater? Seit Oktober 2009 befindet sich unser Theater in einer Pha­se der intensiven Auseinandersetzung mit der Türkei, stellvertretend geht es hier um Okzident und Orient, um den Islam und den Westen, (aber da geht das Problem mit den Definitionen und Zuschreibungen schon los). „Nathan schweigt“, die Durchleuchtung und Demontage eines deutschen Klassikers durch ein türkisches Regieteam, hatte im Mai 2010 Premiere. „Cabinet“, eine Kopro­duktion des Theater Freiburg mit dem unabhängigen Spielort garajistanbul, in der 15 Künstler aus beiden Ländern über das deutsch-türkische Verhältnis for­schen, befindet sich nach einem Jahr der Recherche von Türken in Freiburg und Deutschen in Istanbul kurz vor der Premiere am 29.10.10 in Freiburg.

Als ich 2007 das erste Mal in Istanbul war, hatte ich das inspirierende und be­freiende Gefühl, an einem Ort zu sein, wo sich verschiedene Kulturen begegnen und dadurch eine faszinierende Lebendigkeit entsteht. Eine Mischung zu sehen, von der man selbst Teil ist, aber mit völlig fremden Elementen konfrontiert wird, ermöglicht einem erst einmal eine lustvolle und angstfreie Annäherung an „das Fremde“. Ich werde nicht das Bild eines Straßencafés vergessen, in dem zwei Freundinnen, eine davon tief verschleiert, die andere in einer Art Bikini, mitein­ander saßen. „Das geht?“, dachte ich damals. Ich weiß, dass dieses erste Bild von Istanbul auch eine naive Projektion ist. Trotzdem: Dass Verschiedenes so gleichberechtigt nebeneinander existieren kann und dabei eine ungeheure Le­bendigkeit entsteht, nehme ich seither als inneres Bild eines idealen Zustands mit. Ich empfinde heute eine Gleichzeitigkeit des Verschwindens, der Auflösung von Kulturen in einer global vernetzten Gesellschaft und eine Betonung der Zu­gehörigkeiten und kulturellen Differenzen. Kulturell können Menschen derselben Nationalität so verschieden wie nie zuvor sein. Was regelt das Zusammenleben dieser Kulturen in einer Gemeinschaft, wenn nicht automatisch eine Kultur Vor­rang hat – in dem Sinne, dass sie alle Lebensbereiche gestalten kann? Das ge­genseitige Verstehen ist vielleicht auch weniger das Ziel, als ein guter Umgang miteinander, trotz Differenzen.

Dass dieser Umgang miteinander über das Feststellen und Anerkennen der Dif­ferenzen hinauswachsen müsste zu einem Formulieren gemeinsamer Werte, kann man weltpolitisch genauso erfahren wie auf einer stinknormalen Probe. Auch die Sprachlosigkeit, das Einrasten in gewohnte Argumentationsmuster, die Wut und das Kapitulieren vor scheinbar unüberwindbaren Gegensätzen haben sich für mich in nicht erwarteter Intensität in unseren bisherigen deutsch-türki­schen Proben abgebildet. Bevor die Motoren durchdrehen und jegliche Diploma­tie versagt, ist es manchmal kostbar, einen Moment des gemeinsamen Schweigens auszuhalten und den gemeinsamen Raum nicht zu verlassen. „Nathan schweigt“ haben wir u.a. deswegen unser erstes gemeinsames Stück genannt. Die türki­sche Regisseurin hatte ein Buch in die Proben mitgebracht, das deswegen inter­essant war, weil es beide Perspektiven durch eine dritte, eine Außenperspektive spiegelt: Der Libanese Amin Maalouf beschreibt in seinem neusten Werk „Die Auflösung der Weltordnungen“, wie sich das aggressive Klima zwischen den Kul­turen immer weiter hochschraubt: „Mit dem Ende der Konfrontation einer Welt zweier Blöcke, in der die Diskrepanzen hauptsächlich ideologisch und die Dis­kussionen permanent waren, hat sich die Welt verwandelt in eine, in der die Diskrepanzen hauptsächlich die Identität betreffen und es für Diskussionen we­nig Platz gibt. Es gibt eine rückwärts gerichtete Tendenz zu weniger Universalis­mus, weniger Rationalität, weniger Laizismus; zu einer Betonung der ererbten Zugehörigkeiten auf Kosten erworbener Meinungen. Durch die Betonung von Zu­gehörigkeiten, insbesondere die religiösen, wird die Koexistenz der verschiede­nen menschlichen Gemeinschaften jeden Tag etwas schwieriger, die Demokratie ist dem ständigen Konkurrenzkampf der Identitäten ausgeliefert; eine Verschie­bung vom Ideologischen zum Identitären. (…) Man kann sich dauerhaft missver­stehen zwischen diesen Zugehörigkeiten: Man hat es mit zwei Geschichtsinter­pretationen zu tun, und sobald man bestimmte Prämissen akzeptiert, vermag man alle Ereignisse schlüssig zu interpretieren, ohne die Meinung der anderen hören zu müssen.“ Dieses von Maalouf beschriebene Muster ist auf eine deutsch-türki­sche Probeneskalation über den „Karikaturenstreit“ genauso anwendbar wie auf die Debatte zum Irakkrieg.

„Nathan schweigt“ – auf dieses Projekt haben sich alle gefreut. Eine türkische Regisseurin, die in kritischer Distanz zu ihrem eigenen Land steht und sowohl die Republik als auch den Islam und die kulturellen Wurzeln dieses Landes ver­mitteln kann, blickt mit uns auf Nathan, den Klassiker der Aufklärung über die Toleranz und die Gleichwertigkeit der Religionen. Der Diskurs auf unseren Pro­ben beginnt mit der ersten Differenz: „Woran glaubt Ihr denn eigentlich und wie weit wäret Ihr bereit, dafür zu gehen?“ „Wieso – wie weit?“ fragen wir zurück. Als jeder von uns seinen Glauben formulieren, seine eigenen Gebote aufstellen soll, kommen Standardsätze heraus: „Tolerant sein, keine Gewalt anwenden, Familie und Freunde pflegen, nicht egoistisch sein“. Das alles ist ziemlich un­spezifisch. „Und was würdet Ihr tun für diesen Glauben?“ fragt Emre, die türki­sche Regisseurin, wieder. „Keine Ahnung.“ Bei der Erinnerung an gebliebene biblische Geschichten unserer Kindheit kommen überall die bildmächtigen, eher grausamen Beispiele des alten Testaments hoch. Im Kontrast dazu stehen unsere Glaubensdemontagen der Gegenwart. Als einer unserer Schauspieler in einer ersten Improvisation „auf seinen Glauben spuckt“, ist die türkische Regisseurin geschockt, aber auch, weil keiner der Mitspieler gegen eine solche Respektlo­sigkeit protestiert. Wir fühlen uns aber nicht verletzt. Der Eindruck unserer tür­kischen Regisseurin nach einer Woche ist, dass wir mit unseren Glaubensvorstel­lungen ziemlich „verkopft“ sind, dass wir feige und vorsichtig im Umgang mit der Frage sind, wie weit wir für diesen Glauben gehen würden. Bei ihr um die Ecke in Istanbul sind bereits zweimal Autobomben explodiert, der Terror ist viel nä­her: „Ich lebe mit dieser Gewalt, diese Leute sind einfach Terroristen, sie reprä­sentieren nicht den Islam.“ Gleichzeitig ist ihr die Normalität eines gelebten Is­lam näher. Unsere türkische Regisseurin weiß einfach besser, woran sie glaubt, und woran sie nicht glaubt.

In einem zweiten Schritt graben wir „Nathan“ als sogenanntes Drama der Auf­klärung an. Was heißt dieser Begriff eigentlich für eine Türkin? Sind wir Deut­schen nicht alle Kinder der Aufklärung, deren letzte Konsequenz doch nur der Markt ist? Wir können nicht raus aus diesem System, obwohl wir es kritisieren. „Eure Spiritualität ist weg“, sagt uns unsere Regisseurin. Ist das denn jetzt nicht auch ein Klischee? Eine Schauspielerin formuliert ihren leicht verzweifelten Fort­schrittsglauben: „Alles wird immer besser. Das muss so sein, sonst stürzt meine Welt ein. Ich will, dass es so ist.“ Daraus resultiert für uns andere – recht nach­vollziehbar – der Glaube an das gesprochene Wort, das bessere Argument. Entscheidungen kommen durch Abwägen der Argumente zustande! „Euer Dis­kutieren ist oft nur Reden, es führt ins Leere“, formuliert die türkische Regisseu­rin ihre Zweifel an unserer tatsächlich auf den Proben wilde Blüten treibenden Diskussionskultur. Dieser Zweifel ist auch ihr Zweifel an der aufklärerischen Ar­gumentationskette Nathans in Lessings Text. „Das Argumentieren Nathans ist eine permanente Vereinnahmungsstrategie, die jemand anderem seinen Raum nicht zugesteht.“ Wir lesen gemeinsam Imanuel Kant und amüsieren uns über den in verschraubten Sätzen immer wieder entgleitenden Sinn, der sich weder Deutschen noch Türken erschließt: „Staatenbund, allgemeiner Wille, allgemein­gültige Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft“. Freiheit ist anstrengend, lernt man daraus. Und: Die Aufklärung ging um ein „Wir“, das Zeitalter der gemein­samen Utopien. Ist die „Gesellschaft“ vielleicht ein Wert, der mehr geschützt und gebildet werden sollte? Weiter an diesem Punkt! Dieselben Begriffe der utopi­schen Gesellschaft der Aufklärung finden sich inzwischen in Hetzreden rechts­extremer Politiker und Populisten. Eine offene Islamophobie ist längst in unserer bürgerlichen Gesellschaft, in unseren Feuilletons und an den Stammtischen an­gekommen. Diese Erkenntnis ist für eine Türkin wirklich neu, für uns Deutsche ist sie unangenehm, weil sie an nachvollziehbare Ängste andockt. Wir lesen die Rede des holländischen Politikers Geert Wilders vor dem britischen Unterhaus: „Islam und Demokratie funktionieren nicht zusammen, wir werden uns niemals dafür entschuldigen, frei zu sein.“ Sind wir also besser, weiter? Tragen wir das Muster der kulturellen Überlegenheit des Westens nicht doch in uns?

„Nathan schweigt“ ist eine diskursive Erforschung von Lessings „Nathan“. Viel­leicht wäre es am Ende radikaler gewesen, auf Lessing ganz zu verzichten? Denn, da, wo wir uns am meisten zu sagen hatten, haben wir gestritten oder improvi­siert. „Es gibt keine Wahrheit (schon gar nicht über Kulturen), nur verschiedene Repräsentationen von ihr in Schrift und Bild.“ Wie wird also der Islam meisten­teils in der Öffentlichkeit repräsentiert? Wie der Westen? Über diese Ebene der Repräsentationen lässt sich kräftig streiten, und wir merken im Laufe unserer gemeinsamen Arbeit, wie viel kritischer man sie hinterfragen müsste. Und wie lernt man, mit Differenzen umzugehen? Am Ende der Proben gab es immer hefti­gere Kämpfe, vielleicht, weil kulturelle jetzt zu ästhetischen Differenzen wurden. Wir streichen eine ans Publikum direkt gerichtete Gottesstaat-Persiflage. Zu platt, zu einseitig für unsere türkische Regisseurin. Wir Deutschen hätten diese Überzeichnung durch Humor vielleicht gemocht. Wir geben uns einer seltsamen Improvisation mit Heilerde hin, um ein Gemälde der menschlichen Gewalt zu erfinden. Darauf wären wir Deutschen niemals gekommen. Leichte Hilflosigkeit der Schauspieler entlädt sich in einer totalen Zerstörungsorgie, Emre ist begeis­tert über die Konsequenz und Brutalität der Szene. Uns gefällt sie schließlich auch, aber das Publikum steht vor einem Rätsel. Das markiert vielleicht auch unseren letzten großen kulturellen Konflikt: Geheimnis versus Erklärung, Intuiti­on versus Diskussion. Unsere gegenseitige Toleranz ist bis an die Schmerzgren­ze gefordert in den letzten Tagen vor der Premiere. Was an dieser Produktion jetzt speziell „türkisch“ ist, wird oft gefragt. Vieles – offenbar nicht auf den ers­ten Blick Erkennbares. Für so viele Widersprüche und Konflikte ist es gar nicht einfach, eine (gemeinsame!) Theatersprache zu finden.

Vielleicht ist es gar nicht möglich, gar nicht wünschenswert, eine gemeinsame Sprache zu finden? Unser zweites Projekt, „Cabinet“ fährt bewusst auf zwei Gleisen. Türken recherchieren über zehn deutsche Ikonen in Deutschland, bil­den sich ihre Meinung und behaupten später auf der Bühne „echte-falsche“ Deutsche zu sein. Deutsche recherchieren in der Türkei über zehn türkische Iko­nen und behaupten „echte-falsche“ Türken zu sein. Die beiden Mannschaften begegnen sich auf einem Theaterbasar, in der Hoffnung, sich gegenseitig ein Stück die Augen zu öffnen und vielleicht herauszufinden, was sie miteinander zu tun haben bzw. voneinander wollen. Der politisch inkorrekte Perspektivwech­sel ist Programm. Die Recherchen haben uns jeweils in einen Strudel überfor­dernder Erfahrungen gezogen, in eine jeweils fremde Welt. Dieses Eingesogen- werden war etwas höchst Lustvolles. Unglaubliche Unwahrscheinlichkeiten, wirkliche Geschichten haben sich ereignet. Uns kam die Türkei viel wacher, viel politischer vor. Und gleichzeitig übergriffiger, nationalistischer. Was denken die Kollegen über Freiburg, über Deutschland? Sie haben seltsame Fotos von Fahr­radanhängern, eingezäunten Mülltonnen und Vogelhäuschen gemacht. Wir sind gespannt darauf, wie der türkische, homosexuelle Countertenor Marlene Diet­rich singen wird und was uns diese falsche Marlene, diese Vaterlandsverräterin, über Deutschland 2010 mitteilen wird! In unserem zweiten Projekt kommen wir, ausgehend von subjektiven Erfahrungen, die in vielen Begegnungen gemacht worden sind, zu einer Theaterform, die zunächst all diese Einzelerlebnisse be­rücksichtigt: In 26 kleinen Zelten kann sich der Zuschauer seinen Parcours durch diese türkisch-deutsche Welt selber gestalten und wird ebenso in Einzelbegegnun­gen verwickelt. Dann treten die beiden Mannschaften gegeneinander an, wobei jede Mannschaft ihren eigenen Gestus haben wird. Die Türken (falschen Deut­schen) sind momentan beim Stichwort: „Propaganda“! Die Deutschen (falschen Türken) wollen vor allem „Fragen stellen“. Ganz langsam kristallisiert sich auch ein gemeinsames Thema heraus, ein Punkt, an dem alle Fäden zusammenlaufen. Dieses Thema ist so groß, dass man kaum wagt, es auszusprechen: „Leben wir noch in der Demokratie, in der wir einmal meinten zu leben, und wenn nicht, wie könnte Demokratie heute funktionieren?“ „Cabinet“ ist ein nahezu symmetrisch aufgestelltes deutsch-türkisches Team. Wie sehr diese Doppelhelix in den Proben zusammenfindet, wird sich im Herbst zeigen.

www.theater.freiburg.de

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