Paul Koek verwandelt Voltaires “Candide” am Schauspielhaus Bochum in ein skurriles Musiktheater

“Alles ist zum Besten!” Candide glaubt unerschütterlich, dass unsere Welt die beste aller möglichen Welten ist. Kein Erdbeben mit Tausenden von Toten, kein Schiffbruch, keine Demütigung kann ihn vom Gegenteil überzeugen. Voltaire treibt es wild mit seinem Helden, lässt ihn auspeitschen und zum dreifachen Mörder werden, seine Geliebte Kunigunde wird zur Sexsklavin eines Großinquisitors. Candide glaubt weiter an das Gute. “Candide oder der Optimismus” heißt die Romanbearbeitung von Paul Slangen und Olaf Kröck, mit der das Schauspielhaus Bochum unter neuer Intendanz startete. Es ist eine Koproduktion mit der Veenfabriek aus den Niederlanden, gefördert im Fonds Wanderlust.

Ein großes Papiertheater

Regisseur Paul Koek, bekannt durch seine langjährige Zusammenarbeit mit Johan Simons, erzählt die Geschichte im Rückblick. Voltaire und Kunigunde sind alt geworden und  beschäftigen sich nur noch mit den Früchten ihres Gartens. Ein großer Rahmen steht auf der Bühne, dahinter verbirgt sich ein überdimensionales Papiertheater. Durch Öffnungen in den Seiten schieben die Schauspieler Wellen und Berge aus Pappe hinein. Sie agieren stark stilisiert, comichafte Erinnerungen eines naiven Geistes. Wobei dieser Begriff hier nichts Negatives hat. Candide ist ein Naiver im Sinne Schillers, jemand, der mit sich im Reinen ist, ein purer Optimist. Ohne seine Naivität wäre er längst zerbrochen, sie ermöglicht es ihm, die Grausamkeiten zu überleben. Nie verliert er sein Ziel aus den Augen, mit Kunigunde glücklich zu werden. Und schließlich schafft er es auch.

Jürgen Hartmann als alter Candide und Therese Dörr als Kunigunde mit Musikern. Foto: Thomas Aurin

Die Musik spielt eine zentrale Rolle in dieser Aufführung. Links sitzt ein Streichtrio plus Klarinette, rechts eine dreiköpfige Band mit elektronischen Instrumenten. Es gibt kaum eine Szene, die nicht untermalt wird, mit schrägen und harmonischen Klängen, treibenden Rhythmen und flirrenden Atmosphären. Gleich zu Beginn sitzt der Cellist vor einer Leinwand, auf der zu seinen Tönen Striche entstehen. Er malt quasi musikalisch ein Bild. Kunstvoll einfache Cartoons, die an das Linienmännchen “La Linea” des Italieners Osvaldo Cavandoli erinnern, ziehen  sich als Stilelement durch den gesamten Abend. Die Musiker greifen auch in die Szenen ein. Als Candide mit Begleitung ins sagenhaft reiche El Dorado kommt, wo Gold wie Dreck auf den Straßen liegt, stehen sie in Unterwäsche und billigen Perücken mit den Schauspielern im Papiertheater.

Foto: Thomas Aurin

Der Bochumer “Candide” ist ein eigenartiger Theaterabend. Er steckt voller wunderschöner Momente und kaugummiartiger Längen. Paul Koek schafft eine eigene Welt und verliert sich immer wieder darin. Das ist ebenso nervend wie angenehm, der Musikteppich lullt einen ein, man kann hinreißend schlafen in dieser Aufführung, richtig erholsam. Es ist fast anzuraten, sich diesem Bedürfnis hinzugeben, denn wenn man dagegen kämpft, könnte einen das manchmal  bewusst eintönige Spiel, das aus manchem  Schrecken eine Putzigkeit werden lässt, aggressiv machen.

Vom Dösen erfrischt ist man offener für die Highlights. Wovon es einige gibt. Jutta Wachowiak, die schon in Anselm Webers Essener Ensemble Glanzpunkte setzte, hat einen grandiosen Monolog als “alte Frau”, die eine Lebensgeschichte von vollendetem Wahnwitz erzählt. Sie stellt sich als Papsttochter heraus, der bei einem ihrer vielen Abenteuer eine Pobacke abgeschnitten wurde, um hungrige Soldaten zu ernähren. Jutta Wachowiak reißt die vorher etwas dümpelnde Aufführung hoch, da strömt plötzlich aus jeder Pore Theater.

Kitsch und Ironie

Jürgen Hartmann übernimmt als alter Candide die Erzählerfunktion, steht oft nachdenklich auf der Bühne oder kauert sich mit seiner Kunigunde vor die erste Reihe unter die Rampe.  Der Holländer Joep van der Geest verkörpert die Rolle in den Rückblenden mit wechselnden Reisepartnern. Ausgezeichnet gelingt die Venedig-Szene mit dem herausragenden Raiko Küster als Pococurante, der trockenen Zynismus mit absonderlichen Tanzdarbietungen kombiniert. Und außerdem noch einen bizarren Popsong interpretiert, der heftig ironisch ist, aber den Kitsch so perfekt bedient, dass die Wirkung nicht ausbleibt. Eben das hat Voltaire mit seinem “Candide” entwickelt, eine böse Satire, die mit einer so überschäumenden Fabulierlust daher kommt, dass sich die Geschichte selbstständig macht.

“Candide” wird das Publikum spalten. Es ist ein anstrengender, eigenwilliger, seltsam schöner Theaterabend geworden. Ein mutiger und ungewöhnlicher Beginn für das neue Bochumer Leitungsteam, das die ganze Saison hindurch auf internationale Koproduktionen setzt und fremdsprachige Regisseure am Haus arbeiten lässt. Die Hälfte des Spielplans könnte auch für ein “Theater der Welt”-Festival  gedacht sein. Sicher wird da nicht alles gelingen, aber es klingt sehr spannend, was sich Intendant Anselm Weber und seine starke Dramaturgie da vorgenommen haben.

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