Es gibt nicht viele Theaterprojekte, die tatsächlich einen Beitrag leisten zur Aufarbeitung der geschichtlichen Vergangenheit – dieses aber ist eines davon. Die Landesbühne Niedersachen Nord und das Teatr Polski in Bydgoszcz (früher Bromberg) haben ihre Zusammenarbeit unter das Thema gestellt, das beide Städte historisch miteinander verbindet: der „Blutsonntag“. Nein, das hat nichts mit „Bloody Sunday“ und dem Nordirlandkonflikt zu tun. Auch im heute polnischen Bydgoszcz gab es einen blutigen Feiertag, den „Bromberger Blutsonntag“ vom 3. September 1939. Wer diesen Spuren der Historie folgt und die Fakten recherchieren will, spürt rasch, wie schwierig das ist – bis heute gibt es keine offizielle Sicht auf die Ereignisse, der sowohl Polen als auch Deutsche zustimmen. Fest steht: Es gab an diesem Tag ein Massaker unter Polen und Deutschen in Bromberg.

Die jüngste, umfassende Auswertung aller Studien, die der Osteuropa-Historiker Markus Krzoska an der Uni Gießen erarbeitet hat, geht von über 400 Getöteten aus. Zuvor lagen die Schätzungen zwischen 178 und 58 000 Opfern – letztere Zahl wurde von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels willkürlich in die Welt gesetzt, und alle Getöteten, so behauptete er, seien Deutsche gewesen. Bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, so schreibt der Journalist Sven Felix Kellerhoff in der „Welt“, sei der „Blutsonntag“ deshalb das gängigste „Argument“ der Rechtsextremen gewesen, um Polen die Schuld am Zweiten Weltkrieg zuzuschieben und die Verbrechen der Wehrmacht zu relativieren. Und auch heute: Unter den ersten Google-Treffern zum „Bromberger Blutsonntag“ erscheint eine Hitlerrede auf YouTube, die von Neonazis eindeutig kommentiert wird.

Aber was ist damals wirklich geschehen? Krzoska beschreibt, dass sich die polnische Armee nach dem Einmarsch der deutschen Truppen am 1. September im Schockzustand befand. Südlich von Danzig wurde die Pommerellen-Armee zerschlagen, weshalb man in Bydgoszcz die baldige Besetzung der Stadt befürchtete. Eine Bürgerwehr wurde eilig gegründet, außerdem strömten Flüchtlinge und versprengte Soldaten in die Stadt, Tausende von Menschen stauten sich auf der Danziger Straße am 3. September, die Stimmung heizte sich auf, Gerüchte über vorrückende Deutsche machten die Runde, plötzlich wurden Schüsse laut – es hieß, deutsche Diversanten hätten das Feuer eröffnet. Das wurde, so Krzoska „zum Auslöser einer Hetzjagd auf einheimische Deutsche“. Bereits am 5. September ließ die Wehrmacht als Vergeltungsakt Tausende von Polen exekutieren. Soweit der Forschungsstand im Frühjahr 2012.

Auf der offiziellen Homepage der Stadt Bydgoszcz ist der 3.9.1939 folgendermaßen notiert: „Am 3. und 4. September kam es zum Ablenkungsangriff der Deutschen, der als ,Blutsonntag’ bezeichnet wird.“ Nirgendwo sonst (zumindest online) ein Hinweis auf dieses Ereignis. Im Flyer „Bydgoszcz – ein Stück Geschichte“ ist zwar der blutige Einmarsch der deutschen Truppen am 5. September aufgeführt, nicht aber die Geschichte des 3. September.

Das Denkmal auf dem Alten Markt für die Opfer des Hitler- und Stalin-Regimes

Das Denkmal auf dem Alten Markt für die Opfer des Hitler- und Stalin-Regimes

Was hat das alles nun mit Wilhelmshaven zu tun? Viele Deutsche aus Bydgoszcz fanden nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Heimat dort oben an der Nordsee, am Jadebusen. Es gibt mittlerweile auch eine Patenschaft zwischen beiden Städten – und trotzdem kann man sich lebhaft vorstellen, was es heißt, eine deutsche Autorin und einen polnischen Autor zu beauftragen, gemeinsam ein Stück über den „Blutsonntag“ zu verfassen. Es gibt wahrlich einfachere Aufgaben für Dramatiker. Mehr dazu in meinem nächsten Blog-Beitrag