Im Rahmen der dreitägigen Goethe-Instituts Veranstaltung “Kultur und Konflikt”, die zwischen dem 02.02. und 04.02.2011 in München stattfand, waren  u.a. die Leiterin der dOCUMENTA (13) Carolyn Christov-Bakargiev, die Islamwissenschaftlerin Prof. Dr. Gudrun Krämer, der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Eberhard Sandschneider und der Leitende Schauspieldramaturg des Mainfranken Theaters Würzburg Kai Tuchmann als Vortragende eingeladen. Den Vortrag Kai Tuchmanns zum Thema internationale künstlerische Kooperationen geben wir hier gekürzt und leicht bearbeitet wieder:

“An den Beginn meines Vortrags möchte ich einige Überlegungen zum Thema Kultur und Konflikt stellen. Ich bin leitender Dramaturg an einem Theater, das es sich zum Programm gemacht hat vor allem den Kulturbegriff einer näheren Betrachtung, einer Kritik – gerade unter den Bedingungen des beginnenden 21. Jahrhunderts – zu unterziehen. Nicht umsonst heißt das Motto unserer nächsten Spielzeit “Irritation Heimat”. Die Definition von Gemeinschaften nach ihren sprachlichen, historischen und religiösen, also kulturellen Gemeinsamkeiten ist gerade in unserer Gegenwart hoch fragwürdig geworden. Schenkt man dem momentan viel zitierten Mark Terkessidis Glauben, so haben bereits gegenwärtig fast die Hälfte aller unter sechsjährigen Kinder, das, was man einen “Migrationshintergrund” nennt: Wie können wir im Wissen um dieses Zahlenverhältnis noch einen essentiellen Kulturbegriff aufrechterhalten? Was ist “deutsch”, wenn in gut 20 Jahren die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung ihre Herkunft nicht aus Franken, Westfalen oder Bayern herleitet, sondern aus Jugoslawien, der Türkei oder Russland? Was hat dann ein Konzept wie Integration noch für eine Relevanz? Wer soll denn hier in was integriert werden? Ist es nicht unsinnig an einer Vorstellung von deutsch/deutscher Kultur festzuhalten, deren gegenwärtige Referenz sich vor unser aller Augen auflöst? Mündet nicht letztlich jedes Gerede von Integration – willentlich oder nicht – in eine Auffassung von Leitkultur? Ist es – und das soll eine kritische Würdigung unseres Tagungsthemas sein – nicht gerade der Kulturbegriff, der zwangsläufig zum Konflikt führen muss? Davon legt doch beispielsweise Samuel Huntingtons Buch “Kampf der Kulturen” ein Zeugnis ab. Darin unterteilt er die Welt in Kulturkreise und identifiziert diese mit verschiedenen (und damit auch notwendigerweise konfligierenden) Eigenschaften. Doch mir scheint gerade die Unterteilung der Welt in Kulturkreise eine Form epistemischer Gewalt zu sein. Erstens, da der Kulturbegriff fragwürdig geworden ist, und zweitens, da das Bild des Kreises zwangsläufig dazu führt Hegemonien zu konstruieren, da es ja ohne Zentren keine Kreise gibt. Sollte nicht die Vorstellung von Kultur endlich abdanken? Hat diese Vorstellung nicht ihre Schuldigkeit getan, indem sie dem Nationalstaat (in unseren Breiten ja oft als Kulturgemeinschaft verstanden) zur Geburt verholfen hat? Doch in einer Zeit, in der die weltweite Verteilungsungerechtigkeit das Verhältnis von Menschsein und Nationalität in unlösbare Widersprüche verstrickt, ist es notwendig ein neues Paradigma zu entwickeln. Der Kulturbegriff hilft uns nicht zu verstehen, was da passiert, was sich da transformiert, welch sonderbaren Tanz unsere Konzepte von Humanität und Menschenrechte vollziehen, wenn aus dem einstigen Bürger Ghanas nach seinem Weg über das Mittelmeer ein Unbürger in Deutschland/ein geduldetes Subjekt in einer “Gemeinschaftsunterkunft” wird, das zum monatlichen Überleben 40 Euro zugewiesen bekommt. Das Kulturkonzept hilft uns auch nicht dabei anzuerkennen, dass ein Palästinenser in New York ein anderer ist als in Berlin und der wiederum ein anderer ist als in Nablus und der wiederum ein anderer als im Flüchtlingslager in Asker, dass ein Palästinenser in Jordanien wiederum ganz andere Lebensbedingungen vorfindet als ein Palästinenser in Gaza oder in Israel. Ist es in unserer Gegenwart nicht gerade die Eigentümlichkeit des Kulturbegriffs geworden, Differenzen und Besonderheiten zuzuschütten, anstelle sie (und da lag irgendwann mal sein Ursprung) produktiv zu machen? Kultur ist zu einer Maske geworden, die man sich an bestimmten Punkten politischer Auseinandersetzung aufsetzt. Und Kultur ist Kapital, das man durch Stadt- und Tourismusmarketing in bares Geld umwandelt.

Ist es nicht Zeit für die Entwicklung eines neuen Paradigmas? Innerhalb der Berliner Theaterwissenschaften hat sich das meiner Meinung nach ganz brauchbare Konzept der Verflechtung etabliert. Menschliches Zusammenleben mündet diesem Konzept nach nicht (mehr) in Kulturgemeinschaften, sondern in sich immer wieder sekündlich neu aushandelnden Verflechtungen.

Ich weiß, das wir hier über die auswärtige Kulturarbeit des Goethe Instituts reden wollen, doch für mich ist diese auswärtige Arbeit nicht von den von mir beschriebenen Dynamiken zu trennen. Ich möchte uns einladen, auch unsere Kategorien von Innen und Außen einzustürzen. Das Ausland ist doch längst unter uns. Unsere internationalen Aktivitäten sollten die nationalen Wirklichkeiten nicht vergessen machen, sondern mit diesen in einem bewussten Verhältnis stehen.

Als Theatermacher, der bereits häufig für das Goethe-Institut gearbeitet hat, stehe ich in einer langen Tradition sog. interkultureller Theaterarbeit. Für die  Theaterwissenschaftlerin Erika Fischer-Lichte ist unser deutsches Stadttheater etwa kein Ausdruck deutscher Kultur, sondern es ist aus Verflechtungen hervorgegangen, die aus den Auftritten englischer Schauspieltruppen in deutschen Breiten resultierten. Anscheinend eindeutig asiatische Theaterformen wiederum, wie z.B. das Kabuki, sind stark durch jesuitische Einflüsse geprägt. Max Reinhardt integriert seinerseits zu Beginn des 20. Jh. Elemente asiatischer Theaterpraxen in seinen Aufführungen. Verflechtungen sind also eine Kategorie Kunst jenseits von Begriffen kultureller Identität  zu verstehen. Und Verflechtungen gab es auch schon längst vor der Globalisierung und dem Internet.

Doch sind natürlich diese Verflechtungen keine Phänomene im luftleeren Raum. Diese Verflechtungen vollziehen sich natürlich innerhalb konkreter Machtkonstellationen. Die in den USA arbeitende Performancekünstlerin Coco Fusco benennt als Grundmodell jeder interkulturellen Projekte die ethnographische Ausstellung des farbigen Subjekts (angefangen von den Weltausstellungen bis hin zu den heutigen Reisesendungen im Fernesehen). Diese Ansicht mag sehr radikal anmuten doch sie entbehrt nicht einigen Entsprechungen. Gerade die Theateravantgarden zu Beginn des 20. Jh. entwickeln ihre Ästhetiken in expliziter Auseinandersetzung mit außereuropäischen performativen Praxen. Brecht und das asiatische Theater oder Artaud und seine Faszination für das balinesische Theater seien hier kurz erwähnt.  Doch immer stand hierbei nicht etwa das Interesse an der anderen Kultur im Vordergrund, sondern der eigene künstlerische Kontext, den man durch die Aneignung fremder Theatersprachen aus dem Leerlauf realistisch-psychologischer Spielweisen befreien wollte. Insofern ist eine Nähe zu kolonialer Ausbeutung auf dem Gebiet der Ästhetik hier nicht ganz von der Hand zu weisen. Der indische Theaterwissenschaftler Rustom Bharucha wird der Theaterlegende Peter Brook, anlässlich von dessen Uraufführung des indischen Epos “Mahabharata”, eine rücksichtslose Ausbeutung der indischen Tradition vorwerfen, da Brook sämtliche Elemente seiner Inszenierung aus einer Dekontextualisierung indischer Traditionen und Bräuche gewinne und beispielsweise heilige Handlungen der Lächerlichkeit preisgebe. Bharucha markiert so die Position, die ziemlich konsequent in internationalen Projekten Kulturimperialismus entdeckt.

Es ist wiederum Fischer-Lichte, die anhand ihrer Beschreibung von Robert Wilsons Inszenierungen eine andere Position einnimmt, indem sie an Wilsons Inszenierungen gerade dessen radikale Dekontextualisierung aller Zeichen von ihren Ursprüngen als ästhetisches Paradigma bespricht. Ein Zeichen gehört demnach allen, bzw. gehört ein Zeichen immer dem, der es benutzt. Ein Zeichen denotiert keine Wahrheiten, es ist immer nur Rahmen u n d Reflex des gegenwärtigen Diskurses und damit bietet es dann auch die Möglichkeit eines Dialoges im Dritten Raum.
Der Dritte Raum wiederum ist eine Denkfigur des in Harvard lehrenden Literaturwissenschftlers Homi K. Bhabha. Im “Dritten Raum” werden Symbole unterschiedlicher Kulturen mit neuen Bedeutungen versehen. Aufgrund dieser “Hybridisierungen” ermöglicht er die Formulierung gänzlich neuer Perspektiven, die weder der Tradition der einen noch der andern Gemeinschaft gegenüber verpflichtet sind. So heißt es bei Bhabha

“This Third Space displaces the history that constitutes it, and sets up new structures of authority, new political initiatives […] The process of cultural hybridity gives rise to something different, something new and unrecogniseable, a new era of negotiation of meaning and representation.”[1]

Damit ist auch eigentlich schon das gesamte Spannungsfeld internationaler künstlerischer Kooperation umrissen: Es ist markiert durch die beiden Pole Kulturimperialismus und (utopischer) Dritter Raum. Es ist sicherlich unmöglich, pauschal über diese internationalen künstlerischen Kooperationen zu urteilen. Letztlich wird jede einzelne nur  dicht beschrieben werden können. Gerade in Konfliktregionen wird dieser Beschreibungsversuch  durch einen Faktor mitbestimmt den ich, zugegeben etwas unglücklich, die “NGOisierung der Kunstszene” nennen will und auf den ich hier lediglich nur jetzt hinweise.

Abschließend noch eine Bemerkung über den Sinn und die Grenzen internationaler künstlerischer Kooperationen.
Meiner Meinung nach erreicht die internationale künstlerische Zusammenarbeit dann ihr Ziel, wenn aus ihr eine postkoloniale Ansicht der westlichen Wissensproduktion und Politik resultiert. Der postkoloniale Theoretiker Robert Young identifizierte mal bestechend einfach diese postkoloniale Ansicht  mit der trikontinentalen Perspektive, also das Ansehen der Welt aus der  Perspektive Afrikas, Asiens uns Lateinamerikas.
Doch sollten wir uns trotz aller künstlerischen Ambitionen bewusst machen, dass (auch der) internationale Kunstdiskurs nie ein repräsentativer ist. Das ist er ja auch in Deutschland nicht, wo das Ticket für eine Schauspielpremiere soviel kostet wie ein Zehntel des Hartz IV Satzes. Auch in der internationalen künstlerischen Arbeit finden nicht alle zueinander: Weitestgehend ausgeschlossen sind oft weibliche, queere, körperlich oder psychisch variante, schriftlose, politisch dissidente, entrechtete und dörfliche Perspektiven auf den internationalen Austausch. Und zwar auf beiden Seiten des Austausches.


[1]Bhabha, Homi: The Third Space. In: Rutherford, Jonathan (Hg.): Identity-Community, Culture, Difference. London 1990. S. 207-221. S.211.

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