Mein erster Auftrag als neue Pfadfinderin des Wanderlust-Blogs ist bestens für den Einstand geeignet: Ich fahre nach Wilhelmshaven, einer Stadt an der Nordseeküste, „am Jadebusen“, wie es in den Touristenbroschüren heißt, eine Stadt, in der ich noch nie war und die auch kein anderer Wanderlust-Blogger erkundet hat. Echte Pionierarbeit also; fehlte nur ein Fähnchen mit dem Wanderlust-Logo im Rucksack, um es auf dem Dach des Stadttheaters in Wilhelmshaven, Hauptquartier der Landesbühne Niedersachsen Nord, aufzupflanzen: erwandert!

Wilhelmshaven, eine kleine Stadt mit 80 000 Einwohnern, steuert man entweder als Tourist zum Baden, Wattwandern und zum Besuch im Marinemuseum an – oder man kommt, weil man bei der Marine arbeitet; sie hat hier den größten Stützpunkt in Deutschland. In Wilhelmshaven wohnen aber auch letzte Zeitzeugen, die 1939 den „Blutsonntag“ im polnischen Bromberg (Bydgoszcz) erlebt haben. Zwei Tage nach Beginn des Polenfeldzugs kam es zu diesem Massaker zwischen Polen und Deutschen, die in Bromberg lebten. Noch immer ist strittig, was die genauen Ursachen waren und wie viele Menschen dabei getötet wurden. Ein großer Teil der deutschen Minderheit, die bis Ende des zweiten Weltkriegs in Bromberg lebte, übersiedelte jedenfalls nach Wilhelmshaven. Heute versucht man, diese finstere Vergangenheit aufzuhellen: Bromberg ist Partnerstadt Wilhelmshavens, und die schon erwähnte Landesbühne Niedersachsen Nord nutzt den Wanderlust-Fonds, um das Thema künstlerisch aufzuarbeiten (weitere Infos): Im Oktober hat das deutsch-polnische Gemeinschaftsstück über den Blutsonntag zuerst in Bromberg (13.10.), dann in Wilhelmshaven (20.10.) Premiere. Dazu dann mehr im Herbst. Momentan nähert man sich gegenseitig mit Gastspielen an: Die Wilhelmshavener haben ihren „Woyzeck“ letztes Jahr in Bromberg gespielt, jetzt haben die Polen ihre „Dreigroschenoper“ in 20 Stunden Busfahrt an die Nordsee gebracht.

Brecht auf polnisch in Deutschland – klingt ungefähr so, als würde man in Polen deutsche Piroggen anbieten. Pawel Lysak, der Intendant des gastierenden Bromberger Stadttheaters „Teatr Polski Bydgoszcz“ und Regisseur der Inszenierung, ist sich des Risikos natürlich bewusst: „In Polen ist die Dreigroschenoper nicht so populär, die Leute finden den Text eher langweilig. Aber hier denken ja alle: ‚Das ist unser Stück und wehe, das wird vermurkst!’“

Zuerst ist es hauptsächlich befremdlich, die Moritat von Mackie Messer, beziehungsweise „Mackie Majchrze“, auf Polnisch zu hören. Der polnische Schauspieler (leider sind die Namen nicht eindeutig in der Besetzungsliste identifizierbar) gibt ihn als stiernackigen, kahlköpfigen Kraftprotz mit Muscle-Shirt, dem man nicht im Dunkeln begegnen will. Wutschnaubend rast er über die Bühne, während seine Polly zunächst als schmächtiges Häschen in rosa Puschen und Pyjama herum steht, bevor sie sich dann zum überdrehten Vamp in Minirock verwandelt. Ohnehin muss man sagen, dass die Stärke der Darsteller hauptsächlich in ihrer überbordenden Energie und ihren kraftvollen Stimmen liegt. Und da der Text bekannt ist, muss man nicht jede Sekunde auf die Übertitel starren, sondern kann sich auf die Präsenz der Truppe konzentrieren.

Lysak, der im „Teatr Polski Bydgoszcz“ Wert auf politische Aktualität legt, lässt das Stück im London von 2011 spielen: Den Platz der Krönung der Königin im Original nimmt bei ihm die Hochzeit von Prinz William und Kate ein – auf eine bühnengroße Leinwand werden Aufnahmen der Zeremonie und anschließenden Kutschfahrt projiziert. Schon erstaunlich, wie historisch die Hochzeitsparade der uniformierten Engländer wirkt – sie könnte sich tatsächlich auch 200 Jahre früher ereignet haben. Zweite Verortung ins London des vergangenen Jahres sind natürlich die Riots: Junge Gruppen, die aus verständlichem Protest auf nicht mehr verständliche Raubzüge durch die Viertel ziehen und die Läden kleiner Leute plündern, kommen bei Lysak in Form von Jungs mit Kapuzenpullis und mit Kartons von Plasmabildschirmen in den Händen vor. Das Finale, Mackies Beinahe-Tod, spielt sich dann auf einem ausgebrannten Autowrack ab.

Wie das nun mit Brecht zusammenhängt, ob diese historische Analogie aufgeht und an wen sich die Kritik genau richten soll, wird vor den riesigen Projektionen, den pinken Pferdchen- und roten Herzluftballons allerdings eher nebensächlich. Auch die Leinwand, die bei fast jedem Lied herab sinkt und so die Schauspieler an die Rampe drängt, führt zu einem gefühlten Brecht-Weill-Liederabend. Aber auch das hat seinen Reiz, wenn die Stimmen so gut mithalten können – und das, erzählt Lysak nach der Aufführung, obwohl die Schauspieler bei dieser Produktion zum ersten Mal singend auf der Bühne stehen. Erstaunlich, wie leidenschaftlich und inbrünstig die Dreigroschenoper-Songs hier klingen. Das Publikum im ausverkauften Stadttheater lässt sich davon ganz mitreißen und es applaudiert, lange und stehend, für die schmissige Produktion des polnischen Teams. Die Erleichterung ist Pawel Lysak ins Gesicht geschrieben: „Die Aufmerksamkeit für das Stück, die Energie des Publikums ist hier viel größer.“

Ob das im Herbst auch so sein wird, wenn es ans Eingemachte geht? Spannend klingt das Projekt zum Blutsonntag jedenfalls: Die Landesbühne, deren Intendant Gerhard Hess seinen Zuschauern „die aktuelle ästhetische und inhaltliche Diskussion im deutschen Theater zutraut“, hat zusammen mit dem „Teatr Polski Bydgoszcz“, einem der führenden polnischen Theatern in puncto neue Dramatik, eine deutsche Autorin und einen polnischen Autor mit dem historischen Stoff beauftragt . „Es ist das wichtigste Thema, das wir zusammen angehen können“, sagt Lysak.

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  1. Letzte Mission: Wilhelmshaven : wanderlust blog | 5.11.2012 23:52

    [...] & Teatr Polski, Bydgoszcz Mit Wilhelmshaven hat meine Reise als Pfadfinderin aus Wanderlust vor einem knappen Jahr begonnen, in Wilhelmshaven endet sie nun wieder – ein schöner Zufall. Auch für die Stadt schließt sich [...]

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