Was für eine Woche! Seit dem 29. Oktober ist unser türkisch-deutsches Festival im Gange – im Mittelpunkt steht die vom Fonds Wanderlust geförderte Produktion Cabinet – ein türkisch-deutscher Theaterbasar in Kooperation mit dem freien Istanbuler Theater garajistanbul.
Cabinet ist ein Stück, in dem 15 Künstler aus beiden Ländern über das deutsch-türkische Verhältnis forschen. Das Material dieses türkisch-deutschen Theaterabends entstand aus Recherchen der Beteiligten: Die Deutschen erkundeten die türkische Realität in Istanbul, die Türken erforschten die deutsche Realität in Freiburg. Abenteuerliche Begegnungen und Missverständnisse wurden über ein Jahr protokolliert und kulminieren in einer gemeinsamen Stückentwicklung. Wie blicken die jeweils anderen auf die eigene kulturelle Identität, wie werden die eigenen Ikonen umdefiniert? Wie ändert sich der Blick auf das Eigene? Zwanzig Figuren aus dem Fundus der kulturellen Identitäten beider Länder – von Helmut Kohl bis Bülent Ersoy – treffen an diesem Abend aufeinander. Das Theater Freiburg kooperiert in diesem Projekt mit der garajistanbul, dem ersten politisch unabhängigen und renommiertesten interdisziplinären Spielort der Türkei, gegründet 2007 vom dem Künstlerpaar Mustafa und Övül Avkiran.
Eine zentrale thematische Diskussion stand am 3. November auf dem Programm und setzte sich mit der politischen Realität auseinander setzt: “Deutschland – Türkei, eine Zukunftsbeziehung?” Mit dabei waren Kai Strittmatter, Türkei-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Seyran Ateş, Anwältin und Frauenrechtlerin, der freie Journalist Eren Güvercin sowie Serap Celen.
Um aktiv die jeweils andere Kultur im Alltag abseits der Politik kennen zu lernen, finden im Rahmen des Festivals außerdem Akademien statt, in denen über türkische und deutsche Stereotypen debattiert und so manches Klischee humorvoll näher betrachtet wird. Stichwort Gartenzwerge…
Percussionist Murat Coskun, Sängerin Bernadette La Hengst und die türkische DJane Ipek bereichern das Festival mit Konzerten. Außerdem zu Gast: die tanzenden Derwische aus Istanbul.
Zweisprachige Lesungen von Murat Uyurkulak, der aus seinem Werk “Zorn” las, und Bestsellerautorin Ayse Kulin, die ihr Buch “Der schmale Pfad” vorstellte, liessen die Zuhörer zwischen der deutschen und türkischen literarischen Welt wandeln.

von Heike Schmidt, Projektleiterin und Chefdramaturgin an den Uckermärkischen Bühnen Schwedt
Als im Januar 2009 der Startschuss für die Förderung des Projektes „Frau Luna“ durch die Bundeskulturstiftung im Fonds Wanderlust gegeben wurde, stand fest, dass die deutsch-polnischen Beziehungen bei uns in Schwedt an der Oder eine neue Qualität erfahren würden.
Wie das allerdings konkret aussehen würde, wusste keiner genau. Denn schließlich arbeiteten wir schon seit Jahren mit unseren polnischen Theaterkollegen zusammen, holten uns polnische Kinder als Zuschauer ins Weihnachtsmärchen und gastierten ab und zu an Theatern in Szczecin. Es gab also bereits eine Tradition der Zusammenarbeit bis hin zur Freundschaft auf der einen Seite – es gab und gibt aber auch den Alltag in Schwedt und Krajnik Dolny – der ersten Station hinter der Oder -, bei uns im Theater wie auch anderswo: nämlich die Schwierigkeiten des Verständnisses für einander, abgesehen von den Sprachproblemen, die zumeist recht einseitig auf der deutschen Seite liegen.
Da ist auf beiden Seiten diese Abneigung gegenüber dem Anderen, dem Fremden, dem auch historisch Feindlichem und die letztlich immer wieder auflebenden Klischees: die Polen klauen, die Deutschen wollen letztlich wieder die Polen vereinnahmen etc. …
Wie wollten wir also diese Schere zwischen Anspruch und Realität schließen?
Natürlich ist das ein Prozess und geht nur Schritt für Schritt. Über einen – vielleicht bedeutsamen Schritt – soll hier berichtet werden:

Das Landestheater Tübingen und das Karelische Nationaltheater spielen zusammen “Romeo und Julia”
Entspannt stehen sie alle nebeneinander, die Russen und die Deutschen. Sie kündigen das Schauspiel an, “Romeo und Julia” in zwei Sprachen. Erst nach diesem Vorspiel wechseln sie in ihre Rollen. Die Deutschen sind die Montagues, die Russen die Capulets, zwei verfeindete Familien in einem Fantasie-Verona, das überall sein könnte. Deshalb besteht die Bühne nur aus einer großen, schwebenden Spielfläche, einer Schaukel, die jeden, der sie betritt, vor Gleichgewichtsprobleme stellt. Ein überzeugendes Bild für die Herausforderung, mit Kollegen Shakespeare zu spielen, deren Sprache man nicht versteht. Da sind viele gewohnten Sicherheiten nicht mehr vorhanden, und man muss sich darauf verlassen, dass einen der andere gerade nicht verschaukelt.
Die Sprache wird immer wieder zum Thema im Laufe der Aufführung. Als der kämpferisch-hitzige Tybalt (Vjacheslav Poljakov) einen deutschen Satz radebrecht, lassen ihn Mercutio und Benvolio direkt auflaufen. Sie antworten mit arroganten Wortspielen, die Tybalt nicht verstehen kann, lassen ihn auflaufen. Und erzählen in dieser kurzen Szene einiges von der Vorgeschichte des Konfliktes, dem Abgrenzen durch Sprache, dem Unwillen, sich mit dem Fremden auch nur zu beschäftigen. Bruder Lorenzo ist die große Ausnahme, eine zweisprachige Schaltstelle, an die sich beide Familien vertrauensvoll wenden. Udo Rau spielt ihn mit unterschwelliger Leidenschaft und großer Autorität, ein brillianter Spielmacher, der es gewöhnt ist, die Fäden in der Hand zu halten. Umso tiefer ist sein Sturz, als sein perfekt ausgetüftelter Plan am Ende nicht aufgeht.

Romeo und Julia, Premiere am 8.10.2010 am Landestheater Tübingen © Patrick Pfeiffer

Paul Koek verwandelt Voltaires “Candide” am Schauspielhaus Bochum in ein skurriles Musiktheater
“Alles ist zum Besten!” Candide glaubt unerschütterlich, dass unsere Welt die beste aller möglichen Welten ist. Kein Erdbeben mit Tausenden von Toten, kein Schiffbruch, keine Demütigung kann ihn vom Gegenteil überzeugen. Voltaire treibt es wild mit seinem Helden, lässt ihn auspeitschen und zum dreifachen Mörder werden, seine Geliebte Kunigunde wird zur Sexsklavin eines Großinquisitors. Candide glaubt weiter an das Gute. “Candide oder der Optimismus” heißt die Romanbearbeitung von Paul Slangen und Olaf Kröck, mit der das Schauspielhaus Bochum unter neuer Intendanz startete. Es ist eine Koproduktion mit der Veenfabriek aus den Niederlanden, gefördert im Fonds Wanderlust.
Ein großes Papiertheater
Regisseur Paul Koek, bekannt durch seine langjährige Zusammenarbeit mit Johan Simons, erzählt die Geschichte im Rückblick. Voltaire und Kunigunde sind alt geworden und beschäftigen sich nur noch mit den Früchten ihres Gartens. Ein großer Rahmen steht auf der Bühne, dahinter verbirgt sich ein überdimensionales Papiertheater. Durch Öffnungen in den Seiten schieben die Schauspieler Wellen und Berge aus Pappe hinein. Sie agieren stark stilisiert, comichafte Erinnerungen eines naiven Geistes. Wobei dieser Begriff hier nichts Negatives hat. Candide ist ein Naiver im Sinne Schillers, jemand, der mit sich im Reinen ist, ein purer Optimist. Ohne seine Naivität wäre er längst zerbrochen, sie ermöglicht es ihm, die Grausamkeiten zu überleben. Nie verliert er sein Ziel aus den Augen, mit Kunigunde glücklich zu werden. Und schließlich schafft er es auch.

Jürgen Hartmann als alter Candide und Therese Dörr als Kunigunde mit Musikern. Foto: Thomas Aurin

Die Veenfabriek aus den Niederlanden und das Schauspielhaus Bochum probieren gemeinsam “Candide” nach Voltaire
Die Musiker sind fast immer im Einsatz. Nur in ganz wenigen Augenblicken der dreistündigen Aufführung von Voltaires “Candide” herrscht Stille. Fast, denn in der Ruhe hört man ein leises Knacken. Der Schauspieler Jürgen Hartmann öffnet mit den Fingern eine Erdnuss. “Das habe ich mal auf einer Probe gemacht”, erzählt er. Und schon war es Teil des Abends. Jedes Geräusch ist Musik, die Schritte der Schauspieler, ihr Atmen, das Rascheln der Kleidung. Das ist der Arbeitsstil der Veenfabriek aus Leiden. Das niederländische Ensemble hat einen eigenen Stil des Musiktheaters entwickelt. Für die Eröffnungspremiere des Bochumer Schauspielhauses, mit der die Intendanz Anselm Webers am Donnerstag beginnt, arbeiten die Musiker und Schauspieler mit einem Teil des Bochumer Ensembles zusammen.

Joep van der Geest (links) und Jürgen Hartmann als doppelter Candide bei einer Probe im Bochumer Schauspielhaus. Foto: Thomas Aurin

