Die Veenfabriek aus den Niederlanden und das Schauspielhaus Bochum probieren gemeinsam “Candide” nach Voltaire

Die Musiker sind fast immer im Einsatz. Nur in ganz wenigen Augenblicken der dreistündigen Aufführung von Voltaires “Candide” herrscht Stille. Fast, denn in der Ruhe hört man ein leises Knacken. Der Schauspieler Jürgen Hartmann öffnet mit den Fingern eine Erdnuss. “Das habe ich mal auf einer Probe gemacht”, erzählt er. Und schon war es Teil des Abends. Jedes Geräusch ist Musik, die Schritte der Schauspieler, ihr Atmen, das Rascheln der Kleidung. Das ist der Arbeitsstil der Veenfabriek aus Leiden. Das niederländische Ensemble hat einen eigenen Stil des Musiktheaters entwickelt. Für die Eröffnungspremiere des Bochumer Schauspielhauses, mit der die Intendanz Anselm Webers am Donnerstag beginnt, arbeiten die Musiker und Schauspieler mit einem Teil des Bochumer Ensembles zusammen.

Joep van der Geest (links) und Jürgen Hartmann als doppelter Candide bei einer Probe im Bochumer Schauspielhaus. Foto: Thomas Aurin

Joep van der Geest (links) und Jürgen Hartmann als doppelter Candide bei einer Probe im Bochumer Schauspielhaus. Foto: Thomas Aurin

“Das Wort Entspannung steht über dem ganzen Projekt”,  meint Dramaturg Olaf Kröck. Und beeilt sich mit der Erklärung, was der Begriff in diesem speziellen Fall bedeutet. Schließlich will er nicht den Eindruck erwecken, dass sich die Theatermacher ein paar Wochen Wellness-Oase gegönnt haben. Trotzdem gab es neidische Bemerkungen von Kollegen, die nicht dabei sind. Die ersten vier Wochen wurde in Holland geprobt, auf einem ausgebauten Dachboden. “Wir haben zusammen gegessen”, erzählt Jürgen Hartmann, “sind auch mal ans Meer gefahren, haben lange über das Thema geredet, bevor wir auf die Bühne gingen. Mir ist zum Beispiel erst viel später aufgefallen, was ein Museumsbesuch aus dieser Zeit mit dem Stück zu tun hat.” Als nach drei Wochen die eigentlichen Proben begannen, waren alle überrascht, wie viele Fragen schon geklärt waren, dass schon eine ganze Menge Material da war.

Entscheidung für die Naivität: Der doppelte Candide

Jürgen Hartmann und sein holländischer Kollege Joep van der Geest spielen beide Candide. Die Rolle ist aufgeteilt in verschiedene Altersstufen, der Theatertext nach Voltaires Roman erzählt die Geschichte im Rückblick als Erinnerung oder Traum des alten Candide. Mit Ausnahme der Rahmenhandlung folgt die Aufführung der Chronologie des Romans. Candide gerät in die Wirren von Krieg, Gewalt, Erdbeben und Schiffskatastrophen, verliert aber nie den Glauben, in der besten aller möglichen Welten zu leben. “Das ist für mich aber keine Broadway-Naivität”, sagt Joep van der Geest und spielt vor, was er damit meint. Er  macht Kulleraugen, spricht mit hoher Stimme einfache Sätze in kindlicher Betonung. “Candide entscheidet sich, naiv zu sein. Es ist seine Art, der Welt zu begegnen.”

Die Musik trägt die Schauspieler. Manchmal fallen sie auch um. Foto: Thomas Aurin

Joep van der Geest jagt als junger Candide ein Abenteuer nach dem nächsten, Jürgen Hartmann steht oft minutenlang auf der Bühne und denkt nach. Kein leichter Job für einen Schauspieler. “Die Musik trägt einen”, sagt er, “sie ist ein Partner, sie erzeugt die Atmosphäre.” Die Musiker waren bei den Proben immer dabei, kamen nicht erst später dazu. Es gibt ein Streichtrio mit Klarinette, dazu kommt noch ein elektronisches Trio mit Schlagzeug, E-Gitarre, Keyboard und einer Menge anderer Instrumente. Regisseur Paul Koek, der oft mit Johan Simons zusammen gearbeitet hat, ist auch Komponist und Schlagzeuger. Er denkt musikalisch, sucht nach Kontrapunkten und Gegenläufigkeiten, damit die Aufführung spannend wird. Bei der ersten Leseprobe waren einige der deutschen Schauspieler überrascht, weil Koek vor allem auf ihre Stimmlagen achtete, nicht auf die Textinterpretation.

Schlümm und schlimm: Akzentfreies Agieren

Die Arbeit an der Sprache ist natürlich ein zentrales Thema bei so einer Kooperation. Joep van der Geest findet das Deutsche eine “sehr theatrale Sprache. Am Anfang habe ich gedacht, die Kollegen sprechen alle einfach deutsch. Später habe ich gemerkt, dass es Dialektfärbungen gibt. Die einen sagen ’schlimm’, andere ’schlümm’. Die kommen aus Berlin.” Sprachtrainer haben daran gearbeitet, dass die Niederländer fast akzentfrei agieren. Die Probenarbeit in Deutschland war für Joep van der Geest eine ähnlich ungewöhnliche Erfahrung wie die Zeit in Holland für die deutschen Kollegen. “Bei uns machen alle alles, jeder redet mit, und oft fühlt sich am Ende niemand verantwortlich, zum Beispiel für Requisiten. Hier sind die Jobs genau verteilt. Vielleicht schauen manche nicht über den Tellerrand, aber alles ist organisiert und läuft.” Begeistert erzählt der Schauspieler vom Empfang jeden Morgen im Theater, der Pförtner begrüßt ihn mit Namen. “Ich habe das Gefühl, in der ganzen Stadt ist das Theater eine wichtige Sache, die Leute lieben ihr Theater und freuen sich auf die Eröffnung. In den Niederlanden ist das anders, da ist das Theater den meisten Menschen egal.”

Es ist etwas zusammen gewachsen. Das spürt man schon an der Art, wie Jürgen Hartmann und Joep van der Geest miteinander umgehen. Respektvoll, freundschaftlich, entspannt. “Alles kann geschehen”, das war die Grundeinstellung auf vielen Proben, bis kurz vor der Premiere. Die gemeinsame Arbeit vergleichen die beiden mit einer Band. Alles ist Musik, Entspannung macht den Kopf frei. Und am 23. September ist das erste Konzert.

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