Abb: Daniel Josefsohn

Rund 430 Inszenierungen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz wurden in den vergangenen Monaten von der Theatertreffen-Jury gesichtet und diskutiert. Auf der Schlusssitzung am gestrigen Donnerstag, 16. Februar, haben die sieben Theaterkritikerinnen und -kritiker ihre Auswahl der zehn bemerkenswertesten Inszenierungen der letzten Saison getroffen. Darunter ist auch die Inszenierung “Kill your Darlings! Streets of Berladelphia” von René Pollesch, die im Rahmen der Wanderlust-Partnerschaft zwischen der Volksbühne Berlin und dem Teatro Stabile in Turin entstand. Das Stück hatte erst kürzlich, am Freitag den 10. Februar, seine Uraufführung in Italien (dazu der Blogbeitrag von Tobi Müller). Hier die Begründung der Theatertreffen-Jury:

„Kill your Darlings“ stützt sich auf das flexibelste Netzwerk der Theatersaison: Ein Bewegungschor junger Berliner Turnerinnen, den der Solo-Akteur Fabian Hinrichs grinsend als „Chor der Kapitalisten“ vorstellt, weiß jedweden Ausstiegsversuch feinakrobatisch zu vereiteln. Nicht nur klug, sondern auch bestechend lässig stößt sich René Pollesch von Bertolt Brechts „Fatzer“-Fragment ab und deutet das extrem störanfällige Verhältnis des Individuums zum Kollektiv unter heutigen Vorzeichen um. So prägnant und gleichzeitig ebenenreich kam noch keiner vom „Untergang des Egoisten Fatzer“ zum unmöglichen Abgang des Individualisten Hinrichs. Denn Brechts Arbeiterchor- und Klassenkampf-Rhetorik mitsamt ihren Ausläufern ins Gegenwartstheater ist nur eine mögliche Folie, auf der man den komplexen Abend lesen kann. Auf einer zweiten, einer visuellen Ebene, setzen sich klassische szenische Zitate zu einer Art Retrospektive theatraler Repräsentations- und Revolutionsanstrengungen schlechthin zusammen. Auf einer dritten Ebene packt uns Pollesch bei unserem ausschließlichen Liebesbegehren, und auf einer vierten seilt sich der grandiose Fabian Hinrichs, der dem Pollesch-Sound völlig neue Töne abgewinnt, diskursfit vom Schnürboden ab. Dass der Netzwerksport bei aller Metaebenen-Akrobatik auch noch zuverlässig als Antidepressivum wirkt, ist zwar keinesfalls politisch korrekt. Aber es ist großartig.”

Mehr dazu im Blog des Theatertreffens: www.theatertreffen-blog.de

Außer Atem drehe ich mich um die eigene Achse und suche den Eingang (s. letzer Blogeintrag). Ich bin, was ich nie bin im Theater: zu spät. Im Foyer steht ein stattlicher Mann in Uniform, der jeden Nacheinlass verbietet. Jeden? Das kann nicht sein, nach Turin gereist und das Pollesch-Gastspiel verpasst. Was für ein Klischee, zu meinen, in Italien problemlos zu spät sein zu können. Aber da kommt Mario Martone, ein berühmter Filmregisseur und der Stiftungsdirektor des Teatro Stabile. Er ist genau so spät dran! Die Uniform bleibt erst hart. Das Zauberwort heißt „Capo“, Chef. Mario Martone wiederholt es oft. Er ist der Chef, aber auch ich bin der Chef, nämlich der Bundeschefkulturstiftung oder so. Martone bleibt in Bewegung, redet, geht rein, kommt raus, schleust uns alle rein, während er weiter redet. Die Uniform redet auch, rudert mit den Armen, aber nun bereits abwehrend. Keiner verliert das Gesicht, denn wir haben ja darüber geredet. Nun kann es wirklich losgehen.

Fabian Hinrichs und das Netzwerk.

Drinnen zieht der Schauspieler Fabian Hinrichs gerade den Vorhang auf, der eine Paraphrase auf Brecht darstellt. „Kill Your Darlings – The Streets of Berladelphia“, der Pollesch-Abend aus der Volksbühne in Turin, die italienischen Übertitel blinken auf der LED-Anzeige. Und der Chor schwirrt um Hinrichs herum, junge Turnerinnen und Turner aus Berlin. „Ich dachte, du seist ein linkes Kollektiv, aber du bist ein Netzwerk!“ schmettert Hinrichs dem stummen Körperschwarm entgegen. Oder: „Das Netzwerk will Beziehungen führen. Aber das kannst Du gar nicht, Du bist zu viele!“ Fast am Anfang der Gassenhauer des Abends, der im kulturalisierten Berlin gerade zum Tresenwitz avanciert: „Nein, ich will nicht mit Dir ins Bett, Du bist ein Netzwerk!“
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Fatzer ist über die Alpen gegangen. Nach den Fatzer-Festspielen in Berlin, ist Brechts von Widersprüchen nicht nur besoffene, sondern bis in die Form verwundete Fragment über vier Kriegsdeserteure in Turin angekommen. Für das Teatro Stabile, kein kleines Theater, ist dieser Austausch wichtiger als für die Volksbühne in Berlin, das kriegt man vor Ort sofort vermittelt. Man giert nach Austausch. In Italien sind die Theater angewiesen auf kleine Tourneen, sonst sind die Produktionen manchmal nach zwei Aufführungen schon weg. Und der Ruf der Volksbühne reicht mindestens bis nach Turin, besonders jener von Frank Castorf (den man in Berlin leider nicht zu Gesicht bekommen habe, sagen manche der überaus höflichen Italiener). Und auch wenn man das in den in den unter Druck geratenen Schauspielhäusern nicht gerne hört: Die Verhältnisse, um anspruchsvolles Theater zu machen und darüber nachzudenken, sind in Deutschland einmalig. Soweit der materialistische Kunstrahmen für die Fatzer-Begeisterung der Torinesi.

Turin in Technicolor

Nicht jeder Grund für die Turiner Fatzeriade leuchtet sofort ein, wenn man als Tourist, noch benommen vom sonnigen Alpenflug, im verschneiten Turin eincheckt. Der Stein, der Marmor, die Boulevards, die Plätze, diese ganze unzerstörte Baumasse der letzten zweihundert Jahre, und immer wieder: die nahen Alpen. Turin erscheint reich und schön und auf den Straßen gibt es überall Bücher zu kaufen. Was will man da mit diesem Brecht, der im Fatzer wie der Teufel ringt mit der Dynamik von Individuum und Gemeinschaft wie später nie mehr so deutlich, so experimentell, so unfertig, so verzweifelt?
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Einfach haben sie es sich am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau nicht gemacht: Bei ihrem Wanderlust-Projekt soll nicht nur die hauseigene Tanzcompany eine gemeinsame Inszenierung mit einem Puppentheater entwickeln, nein, die Partnerwahl fiel auch noch auf ein Theater im schlesischen Teil Polens, so dass nun ein schlesisch-deutsches und ein schlesisch-polnisches Haus zusammenarbeiten. Die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg, die zum Teil unterschiedlichen Wahrnehmungen davon auf beiden Seiten, die Vertreibung und neue Grenzsetzung – das sind in Görlitz und auch in Polen nach wie vor Themen mit Sprengkraft. „Hier leben noch Menschen“, erzählt Philipp Bormann, Referent des Generalintendanten am Theater Görlitz, „die nicht an der Neiße spazieren gehen wollen, weil sie dann auf der anderen Seite das Haus sehen, in dem sie aufgewachsen sind.“

Allein die Konflikte um den „Bund der Vertriebenen“ und dessen Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“ lassen schon erahnen, wie unglücklich verworren hier schmerzhafte Kriegserlebnisse, politische Entscheidungen – und leider auch revisionistisches, national geprägtes, volkstümelndes Denken sind.

Erst einmal zu letzterer Schwierigkeit: Wie geht man als Theater mit diesem Pulverfass um? Und, wichtiger noch, was kann man zur Verständigung beisteuern? Das Görlitzer Theater und das Zdrojowy Teatr Animacji in Jelenia Góra haben sich entschieden, die Probleme Probleme sein zu lassen und sich auf die Gemeinsamkeiten zu konzentrieren. Das mag im ersten Moment ausweichend klingen – so wie Philipp Bormann es erklärt, macht es für mich aber durchaus Sinn: „Man arbeitet sich in dieser Stadt sowieso immer am Thema Schlesien ab – wir wollen das jugendlicher, freundlicher, weniger problembeladen machen, wir möchten den Menschen ein Lächeln ins Gesicht zaubern und aus der gemeinsamen Vergangenheit eine gemeinsame Zukunft machen.“ Die Jugendlichen, sagt Bormann, könnten das Thema bald nicht mehr hören, weil sie es oft nur mit Schwierigkeiten und Schwere verbänden, mit Aufklebern von Adlern auf gelb-weißem Grund einerseits (Symbol der Schlesischen Landsmannschaft) und mit Menschen, die den Trennungsdiskurs endlich beenden wollen, andererseits. Es klingt paradox, aber „Schlesien“, meint Bormann, „ist fast ein Tabubegriff“.

Das, was Görlitz und Jelenia Góra allerdings auf eine ganz unproblematische Weise verbindet, ist der gemeinsame Sagenschatz. Und deshalb, somit wären wir beim Thema, heißt das Projekt „Sagenhafte Spurensuche“. Schlesische Sagen? Da fällt mir nur Rübezahl ein, der launische Berggeist aus dem Riesengebirge.
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Wie übt man gemeinsam mit Tänzern und Puppenspielern? Und was, wenn die Tänzer dann auch noch aus Deutschland kommen und die Puppenspieler aus Polen? Tänzerin Steffi Sembdner leitet die Proben für das Projekt “Sagenhafte Spurensuche” zwischen dem Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz-Zittau und dem Zdrojowy Teatr Animacji in Jelenia Góra, beide Orte liegen in Schlesien. Im Audiointerview erzählt sie von den Herausforderungen bei der Stückentwicklung:

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