Außer Atem drehe ich mich um die eigene Achse und suche den Eingang (s. letzer Blogeintrag). Ich bin, was ich nie bin im Theater: zu spät. Im Foyer steht ein stattlicher Mann in Uniform, der jeden Nacheinlass verbietet. Jeden? Das kann nicht sein, nach Turin gereist und das Pollesch-Gastspiel verpasst. Was für ein Klischee, zu meinen, in Italien problemlos zu spät sein zu können. Aber da kommt Mario Martone, ein berühmter Filmregisseur und der Stiftungsdirektor des Teatro Stabile. Er ist genau so spät dran! Die Uniform bleibt erst hart. Das Zauberwort heißt „Capo“, Chef. Mario Martone wiederholt es oft. Er ist der Chef, aber auch ich bin der Chef, nämlich der Bundeschefkulturstiftung oder so. Martone bleibt in Bewegung, redet, geht rein, kommt raus, schleust uns alle rein, während er weiter redet. Die Uniform redet auch, rudert mit den Armen, aber nun bereits abwehrend. Keiner verliert das Gesicht, denn wir haben ja darüber geredet. Nun kann es wirklich losgehen.

Fabian Hinrichs und das Netzwerk.

Drinnen zieht der Schauspieler Fabian Hinrichs gerade den Vorhang auf, der eine Paraphrase auf Brecht darstellt. „Kill Your Darlings – The Streets of Berladelphia“, der Pollesch-Abend aus der Volksbühne in Turin, die italienischen Übertitel blinken auf der LED-Anzeige. Und der Chor schwirrt um Hinrichs herum, junge Turnerinnen und Turner aus Berlin. „Ich dachte, du seist ein linkes Kollektiv, aber du bist ein Netzwerk!“ schmettert Hinrichs dem stummen Körperschwarm entgegen. Oder: „Das Netzwerk will Beziehungen führen. Aber das kannst Du gar nicht, Du bist zu viele!“ Fast am Anfang der Gassenhauer des Abends, der im kulturalisierten Berlin gerade zum Tresenwitz avanciert: „Nein, ich will nicht mit Dir ins Bett, Du bist ein Netzwerk!“

In weiteren Rollen: Der Planwagen aus Brechts „Mutter Courage“, der erst am Schluss eine Nebenrolle spielt, und ein kleiner Bagger, in dem Hinrichs beinahe innerlich über eine nur scheinbare Äusserlichkeit nachdenkt, nämlich die Performativität der Liebe, über den Umstand also, dass Dinge wahr werden, die man besonders oft sagt. Ein bisschen Brecht, zwei kurze Zitate aus dem Fatzer-Fragment, das Hinrichs/Pollesch das „Glitzer-Fragment“ nennen, weil bei ihnen der Brecht-Vorhang so schön silbern glänzt: „Kill your Darlings“ verneint den Bezug zu Fatzer mit einer fast postpubertären Renitenz, die bei Pollesch erstens Methode hat und zweitens eher dialketisch als absolut zu verstehen ist. Das konnte man am Nachmittag erfahren, an der Tagung, die das Goethe-Institut mit der Universität veranstaltet hat.

Wie sehr Brecht mittlerweile zu einem Buchstaben geworden ist, wie sehr er als reiner Signifikant sein Unwesen treibt, will heißen: als Träger unzähliger, auch widersprüchlicher Ideen dient, zeigt so ein Tag im Dunkeln wunderbar klar. Es gibt die italienische Professorenriege, Männer kurz vor ihrer Pensionierung, die Brecht als linke Literaturgeschichte sehen und die, wenn sie ein Zitat vorlesen, den Zeigefinger zuhilfe nehmen. Hier ist alles historisch. Es gibt die italienische Dramaturgin und Wanderlust-Bloggerin (hier) Milena Massalongo, die Fatzer als strukturalistisches Beispiel liest und die politische Radikalität des Fragments in seiner poetischen Radikalität verdoppelt findet. Bei Massalongo geht es weniger mehr um Inhalt, als um Situationen und Gesten, die auf ihre Unmöglichkeit oder zumindest auf ihre Begrenztheit verweisen. Was wir also auch noch mitkriegen an dieser Tagung: Dass in den Augen der alten Riege ein genauer, aber methodisch im Grunde konventioneller (post-)strukturalistischer Ansatz immer noch als leicht frivol gilt. Nicht ganz so frivol wie die Deutschen allerdings, denn die gibt es auch noch am späten Nachmittag: Hans-Thies Lehmann und besonders René Pollesch. (Man versteht nun auch noch einmal besser, worin die Anziehungskraft des deutschen Theaters besteht, auch Fabrizio Arcuri, der Regisseur des Turiner Fatzer-Beitrages, spricht darüber in einem langen Interview mit Jessica Kraatz Magri: hier).

Hans-Thies Lehmann, der auch außerhalb von Unikreisen mit seinem Buch „Postdramatisches Theater“ 1999 für Aufsehen gesorgt hat, Lehmann zeichnet einen Brecht des Scheiterns nach. Einen Brecht, der über die Unterlassung einer Handlung nachdenkt – ausgerechnet Brecht, der Praktiker, den das Exil allerdings lang dieser Möglichkeit beraubte. Brecht, der dem Scheitern des Kollektivs ins Auge blickt, die Energie erkennt, die es immer gegen sich selbst richtet (Lehmann schlägt dann „Gemeinschaft“ vor statt Kollektiv). Brecht, der hier erstmals der Tragödie begegnet, auch der eigenen, und dieses Scheitern in der unmöglichen Form, im nie beendeten Stück spiegelt. Brecht wird bei Lehmann zum Anti-Held, eine zutiefst postdramatische Figur natürlich. Das war die Rampe für die langen Einlassungen von René Pollesch, Lehmanns ehemaligem Schüler am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft.

Pollesch bezieht einen Gutteil seines Selbstverständnisses als Theatermacher aus Dingen, die er nicht tut. Keine Simulation von Realismus, kein Mitfühltheater, keine Identifikation. Schon gar keine Kuscheligkeit mit dem Theaterbetrieb, dem er all dies unentwegt unterstellt und von dem er sich immer wieder gleich abgrenzt. Der kreative Polleschmotor läuft nur mit Negation, Differenz und gerne auch mit einem Pappkameraden in der erste Reihe, der sich wiederum von Pollschs freundlichem Furor provoziert fühlt. Wie sein Schauspieler Hinrichs nicht mit dem Netzwerk ins Bett will und auch klarmachen kann, warum er dies nicht will, zieht es auch Pollesch immer wieder zu diesem Kollektiv hin. Noch nie hat das ein Polleschtext so deutlich thematisiert wie „Kill Your Darlings“, der die Einsamkeitsmomente offensiv und wie immer auch komisch forciert.

Wie sehr man mit solchen Diskussionen bereits mitten im Fatzer steckt, wird damit immer klarer. Besonders, wenn sich Lehmann und Pollesch über das Theater ohne Publikum unterhalten. Das ist etwas irreführend, klingt aber toll und radikal und hat mit Brechts Lehrstücktheorie zu tun, für die Fatzer wichtig war. Das Lehrstück hieße besser Lernstück (auf Englisch ist es richtig: learning play), betont Lehmann, da es bei den Spielenden einen Lerneffekt erzielen sollte, und nicht beim Publikum, das dafür tatsächlich nicht vorgesehen war. Und so versteht auch Pollesch seine Arbeit: Als einen Vorgang, den man für sich selbst probiert, und nicht für das Publikum (am Ende von „Kill Your Darlings“ gibt es eine Stelle, die das thematisiert). Auch das ist irreführend, denn klar geht es dem höchst erfolgreichen Theatermacher nicht um eine Vertreibung des Publikums (dazu wären seine Abende in der Regel auch zu konsumierbar). Aber es geht um etwas, das Massalongo vielleicht „Haltung“ nennen würde: Dass man etwas auf der Bühne tut, das nicht primär von seiner Verständlichkeit oder seinem Verstandenseinwollen kündet, sondern von seiner versuchsweisen Notwendigkeit. Wenn wir jetzt alle etwas frecher wären oder Heiner Müller hießen, könnte man es hinschreiben: FATZER POLLESCH HINRICHS.

Auch Fatzer ist übrigens eine Figur, die ausdrücklich nicht verstanden werden will. Nicht interpretiert, nicht auf den persönlichen Hintergrund zurückgeworfen werden. Insofern ist es logisch, dass ein interkultureller Austausch über den Fatzer-Stoff  nicht einem klassischen Geben und Nehmen entspricht, sondern eher einem Hinwerfen, einer Irritation, einem Nicht-Erkennen. Janek Müller, der Dramaturg und Organisator zwischen der Volksbühne und dem Teatro Stabile, sprach von einigen Schwierigkeiten. Ob er am Ende einer für ihn langen Turiner Woche bemerkt hat, wie sehr Fatzer/Brecht sich dieses Projektes gerade in den Irritationen bemächtigt haben, weiß ich nicht, vermute es aber stark. Ich glaube, Fatzer, der alte Capo, ist eher passiert, als dass er inszeniert wurde.

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