Das Landestheater Tübingen und das Karelische Nationaltheater spielen zusammen “Romeo und Julia”

Entspannt stehen sie alle nebeneinander, die Russen und die Deutschen. Sie kündigen das Schauspiel an, “Romeo und Julia” in zwei Sprachen.  Erst nach diesem Vorspiel wechseln sie in ihre Rollen. Die Deutschen sind die Montagues, die Russen die Capulets, zwei verfeindete Familien in einem Fantasie-Verona, das überall sein könnte. Deshalb besteht die Bühne nur aus einer großen, schwebenden Spielfläche, einer Schaukel, die jeden, der sie betritt, vor Gleichgewichtsprobleme stellt. Ein überzeugendes Bild für die Herausforderung, mit Kollegen Shakespeare zu spielen, deren Sprache man nicht versteht. Da sind viele gewohnten Sicherheiten nicht mehr vorhanden, und man muss sich darauf verlassen, dass einen der andere gerade nicht verschaukelt.

Die Sprache wird immer wieder zum Thema im Laufe der Aufführung. Als der kämpferisch-hitzige Tybalt (Vjacheslav Poljakov) einen deutschen Satz radebrecht, lassen ihn Mercutio und Benvolio direkt auflaufen. Sie antworten mit arroganten Wortspielen, die Tybalt nicht verstehen kann, lassen ihn auflaufen. Und erzählen in dieser kurzen Szene einiges von der Vorgeschichte des Konfliktes, dem Abgrenzen durch Sprache, dem Unwillen, sich mit dem Fremden auch nur zu beschäftigen. Bruder Lorenzo ist die große Ausnahme, eine zweisprachige Schaltstelle, an die sich beide Familien vertrauensvoll wenden. Udo Rau spielt ihn mit unterschwelliger Leidenschaft und großer Autorität, ein brillianter Spielmacher, der es gewöhnt ist, die Fäden in der Hand zu halten. Umso tiefer ist sein Sturz, als sein perfekt ausgetüftelter Plan am Ende nicht aufgeht.

Romeo und Julia, Premiere am 8.10.2010 am Landestheater Tübingen © Patrick Pfeiffer

Die neureichen Russen

Nicht nur das Ensemble, auch das Regieteam besteht aus Russen und Deutschen. Die Kostümbildnerin Irina Pronina zeigt die Capulets als Neureiche. Sie zeigen ihren Luxus bis über die Grenze des Geschmacklosen hinaus. Die Frauen sind Modepüppchen, auch Vater Capulet könnte man so wie er ist über einen Laufsteg turnen. Als Julia scheinbar in die Ehe mit dem – übrigens zweisprachigen – Paris einwilligt, bricht einen Augenblick lang pures Glück aus. Da hüpfen Mama und Amme mit Brautkleidern herum, ganz in ihrem Element, endlich ist die Welt wieder in Ordnung, sie können shoppen.

Übertriebenes Übersetzen

Regisseur Ralf Siebelt erzählt die Liebesgeschichte ganz gegenwärtig. Die Frage, warum Lorenzo Romeo nach Julias Scheintod  nicht einfach eine SMS schickt und damit das tragische Ende verhindert, kann er zwar nicht beantworten. Aber sonst klappt das turbulente, energiegeladene Spiel ganz ausgezeichnet. Wenn die Capulets längere Szenen haben, fungiert der Darsteller des Fürsten (Christian Beppo Peters) als Erzähler. Das klappt immer gut, wenn er die Handlung kurz zusammen fasst. Manchmal versucht er eine Art Voice Over mit dem Mikrofon vom Bühnenrand. Das ist oft überflüssig, weil die Emotionen rüber kommen, auch ohne dass man die Worte versteht. Da stört das – zudem dramatisch gefärbte – Übersetzen bloß. Hier könnte das Landestheater seinen Zuschauern mehr zutrauen. Die Schwaben werden schon nicht weg laufen, bloß weil sie sich ein paar Minuten russisches Theater anschauen müssen.

Überhaupt scheint Tübingen durchaus eine theaterfreundliche Stadt zu sein. Der Spielplan des Landestheaters enthält viele Neuigkeiten, und die erwartungsfrohe Stimmung im Foyer konnte auch ein verspäteter Anfang aufgrund eines Feueralarms nicht dämpfen. Die Theaterpartnerschaft mit dem Karelischen Nationaltheater unter dem Titel Druschba = Freundschaft kam gut an. Die Inszenierung des russischen Stücks “Am Stadtrand” vom karelischen Theaterleiter Sergej Pronin war fast immer ausverkauft, die gegenseitigen Gastspiele der Bühnen trafen auf Neugierde und Offenheit. Ein Gegenentwurf zum Verhalten der Montagues und der Capulets.

Russisches Temperament und deutscher Intellekt

Romeo und Julia, Premiere am 8.10.2010 am Landestheater Tübingen © Patrick Pfeiffer

Die Aufführung lebt auch vom Aufeinandertreffen zweier deutlich zu unterscheidenden Schauspielstile. Die Russen werfen sich mit Vollgas in ihre Rollen. In heiteren Szenen dreht die umjubelte Eila Hidman als Amme auf bis an den Rand der Groteske, ein pummeliger Irrwisch in Blau. Als sie die scheinbar tote Julia entdeckt, schaltet sie direkt um auf große Tragödie. Keine Scheu vor Pathos haben auch Elli Nyarya als Lady Capulet und Ljudmila Isakova, die hinreißend hübsche Julia. Doch sie verfügt auch über ganz andere Töne, ein natürlich zurückgenommenes Spiel und komödiantisches Talent. Das kann sie gleich am Anfang ausspielen, als sie zunächst den Montagues den Stinkefinger zeigt und übergangslos wimpernklimpernd ins Klischee der niedlichen Russentussi wechselt.  Dieses Format hat der naiv-niedliche Raúl Semmler als Romeo nicht, seine Anlaufversuche zu großem Pathos wirken eher hilflos.

Sonst spielen die Deutschen mehr mit dem Kopf, situationsmächtig, wach, die Lage analysierend. Neben dem ausgezeichneten Udo Rau als Pater Lorenzo überzeugt vor allem Patrick Schnicke als Mercutio, ein wuchtiger Typ mit heller Birne, aggressiv und schlau, ein Schläger, der nicht dem tumben Klischee entspricht. Die Probenberichte im Theatermagazin erzählen davon, dass die deutschen Schauspieler langsamer in die Szenen gingen und mehr diskutierten, während die Russen drauflos spielten. Oft nivelliert sich so etwas dann in der Aufführung, hier sind die verschiedenen Stile immer noch deutlich zu spüren.

So ist “Romeo und Julia” am Landestheater Tübingen eine nicht rundum geglückte, aber stets unterhaltende und interessante Aufführung geworden. Das Aufeinandertreffen der russischen und deutschen Schauspieler gibt dem bekannten Stück eine spannende zweite Ebene. Die große Energie  – vor allem auch in den fulminanten Kämpfen – lässt ahnen, dass die Zusammenarbeit allen große Freude gemacht haben muss.  Was  sich auf das Publikum überträgt, das bei der Premiere begeistert reagierte und über drei Stunden lang aufmerksam folgte.

Wieder am 10., 13., 21., 22., 23. Oktober, weitere Vorstellungen ab Januar

www.landestheater-tuebingen.de

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