Im Dezember 2010 machten wir eine kleine Umfrage bei den Wanderlust-Theatern: Gab es eine Anekdote in der Zusammenarbeit, die sie gern erzählen würden? Oder haben sie ein Bild, das die gemeinsame Arbeit mit dem Partnertheater im Ausland besonders gut charakterisiert? Hier nun die Ergebnisse der Rückschau auf das Jahr 2010 in Text und Bild:

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Petra Paschinger, die im März 2010 rege von ihrer Recherchereise in Ougadougou berichtete, sendete uns gleich mehrere Geschichten. Allesamt zu interessant, um nur eine davon auszuwählen:

“Unsere liebste Anekdote – das ist eine schwierige Frage… Die typischste, das ist wohl die, dass in Burkina Faso im entscheidenden Moment fast immer der Strom ausfällt: während der Proben, beim Ausdrucken des Kooperationsvertrags, etc…, so dass immer eine schöne, manchmal auch – vor allem, wenn man im Grunde schon auf dem Weg zum Flughafen ist – nervenzehrende Lücke entsteht, die man dann aber gewohnt kreativ, vor allem für großartige Gespräche nutzen kann.

Bemerkenswert war auch meine Erfahrung als Autorin bei der letzten Recherchereise. Schon allein ungewöhnlich erschien es den Burkinabé, dass eine Frau über die ‘Geldgewalt’ verfügt und Preise verhandelt (worum man ja gar nicht herumkommt, nicht einmal bei einer einfachen Taxi-Fahrt). Im dörflichen Umfeld führte das bei einer Funerailles während den Verhandlungen über die ‘Teilnahme-Gebühr’ und dem damit verbundenen Alkoholkonsum (traditionell ebenfalls nur für Männer) zu entscheidenden Fragen unter den anwesenden Frauen: Ist die Autorin nun ein Mann oder eine Frau? Für die Europäerin bleibt die Erkenntnis, dass Geschlecht in vielen Fällen eben doch auf Zuschreibungen basiert und ein den Zuschreibungen nicht konformes Verhalten (wenn auch notgedrungen) zu Verwirrungen in Bezug auf die geschlechtliche Zuordnung führt.

Das offiziell spannendste Erlebnis ist aber doch vielleicht die Audienz von Schauspieldirektor Bernhard Stengele und mir beim Moogho Naaba, dem Kaiser der Mossi. Man darf den Kaiser nicht persönlich ansprechen, sondern kommuniziert mit seinem Sprecher. Eine schwierige Übung für Europäer, die durch langes Training gewohnt sind, ihren Gesprächspartner beim Sprechen anzusehen. Ebenfalls eine schwierige Übung: dem Kaiser nicht die Hand schütteln und ihn dabei freundlich ansehen, sondern die Hand reichen und den Blick dabei zu Boden senken – wo er dann unweigerlich auf Knaben fällt, die zusammengekrümmt zu Füßen des Herrschers kauern, um so seinen Status zu untermauern. Dabei ist der derzeitige Moogho Naaba, die inoffizielle Autorität der Mossi, ein moderner Mensch: Trotz beinahe feudalem Zeremoniell interessiert er sich für Fussball und – zum Glück – für Projekte, die das Renommée Burkinas stärken. Wer in Ouagadougou etwas erreichen will, braucht den Segen des Moogho Naaba – das wird uns schon am ersten Tag mitgeteilt. Zum Glück erteilt er unserem Projekt seinen Segen, auch wenn uns das mit dem Zeremoniell noch etwas schwer fällt…”

Vom Landestheater Tübingen erreichte uns folgende Geschichte, die während der gemeinsamen Proben zu Romeo und Julia mit dem Nationaltheater Karelien Petrozavodsk entstand:

“Wo ist heute das Aufwärmtraining? Während der Probenzeit von ‘Romeo und Julia / Ромео и Джульетта’, der Abschlussinszenierung des Druschba-Projekts am LTT, gab es wohl kaum eine häufiger gestellte Frage am Haus. Die russischen Ensemblemitglieder hatten nämlich ein sehr ungewöhnliches und für die Tübinger Kollegen neues Bewegungsprogramm mitgebracht: Zu rockiger Musik wird eine Stunde lang eine spezielle Mischung aus Aerobic und sensomotorischer Ergotherapie geboten, Beginn neun Uhr jeden Morgen. Dieses Angebot galt eigentlich dem Ensemble, entpuppte sich aber bald als das heimliche Fitnessprogramm für manch anderen Mitarbeiter des LTT.

Der ‘Vortänzer’, der russische Schauspieler Vjajceslav Poliakov, kurz Slava, der an der Theaterakademie von Petrozavodsk auch als Dozent für szenische Bewegung arbeitet, ließ die Herzen im wahrsten Sinne des Wortes höher schlagen, und immer mehr Kollegen nutzten die Chance, sich vom Schreibtischsitzen zu erholen.

Nachdem bei der Eröffnungsgala der Spielzeit 2010/11 ein Programmpunkt aus einer verkürzten Version dieses Trainings bestand und Slava das Publikum im überfüllten Saal des LTT von seinen Sitzen riss, kam sogar eine Anfrage, ob dieses großartige Fortbildungsangebot für Physio- und Sporttherapeuten, Übungsleiter und Sportlehrer sowie Fitnesstrainer nicht auch im Universitätsklinikum vorgestellt werden könnte. Wenn alles klappt, wird Slava im Januar die Klinikmitarbeiter fitmachen. Unabhängig davon freuen sich alle im LTT schon jetzt darauf, im Januar, bei der Wiederaufnahme des Stückes, ihre Weihnachtspfunde in Bewegung zu bringen.”

Und: Das russische Fernsehen berichtete von der Kooperation Tübingen-Petrozavodsk. Zum Film geht es hier.

Das Musiktheater Oberlausitz in Görlitz kooperiert mit dem polnischen Großpuppentheater in Jelenia Góra. Sie erzählen von den Erlebnissen während des ersten gemeinsamen Workshops im  November 2010:

“Puppenspieler und Tänzer trafen sich zu einem ersten Workshop im Chorprobesaal des Theater Görlitz. Sie wurden von der Puppenspielerin Lidia Lisowicz aus Jelenia Góra angeleitet. Lisowicz hatte verschiedenartige und unterschiedlich große Puppen mitgebracht; die Auswahl ging von der kleinen Fingerpuppe über die Handpuppe bis zur großen Marionette.

Darunter versteckte sich auch eine erotisch angehauchte, dickleibige, aber friedliche Frauenmarionette. Sie zeigte sich ihrem Betrachter großzügig und ein wenig frivol. Ihre volle Pracht des Dekolletés und der nackte Bauch stachen ins Auge. Diese Marionette nun saß still und schweigsam in einer Ecke und wartete auf ihren Einsatz. Die Kandidaten des Workshops mussten aus Dispositionsgründen für eine kurze Zeit den Probenraum für den Kinderchor des Theaters freimachen, aber die Puppe verblieb im Raum und wartete friedlich-frivol. Sie saß gerade so, dass sie die Kinder während ihrer gesamten Probe in aller Ruhe betrachten konnten. Der Chordirektor allerdings sah sie erst, als er den Raum wieder verließ. Seine Augen weiteten sich und gleichzeitig schoss ihm die erschreckende Frage in den Kopf, was wohl die Kinder des Chores bei diesem Anblick gedacht haben würden…”

Und schließlich sendete uns noch Heike Schmidt von den Uckermärkischen Bühnen Schwedt ihre Geschichte vom Treffen mit der Oper im Schloss Szczecin:

“Warum darf man auf der Bühne nicht pfeifen? Wie gehen deutsche und polnische Schauspieler in eine Premiere? Warum dürfen auf der Bühne keine privaten Hüte und Mäntel getragen werden? Diese wichtigen Fragen galt es am 14. Februar 2010 zu klären. Wir – die Uckermärkischen Bühnen Schwedt – hatten zum ‘interkulturellen Abend’ eingeladen. Kommen sollten möglichst viele Beteiligte aus der Frau Luna-Produktion, sowohl aus der Opera na Zamku w Szczecinie als auch aus unserem eigenen Haus.

Uns ging es vor allem um eines: Sich endlich einmal außerhalb der üblichen Proben und Vorstellungen zu treffen, zusammen zu sitzen, zu essen, zu trinken, zu quatschen. Und dabei schließlich auch zu erfahren, welche unterschiedlichen Theater-Rituale es gibt. An deutschen Theatern spucken die Kollegen den Schauspielern vor der Premiere über die rechte Schulter und sagen: toi,toi, toi. ‘Bei uns geht es rabiater zu’, sagte der polnische Schauspieler Cezary Morawski. ‘Wir geben den Kollegen einen Tritt in den Hintern. Das soll so ein Symbol sein: Nun los, geh raus auf die Bühne, mach deine Sache gut.’

An polnischen wie an deutschen Bühnen gilt, dass auf den Brettern, die die Welt bedeuten, nicht gepfiffen werden darf. In Deutschland führt man dieses Verbot auf die Zeit der Gaslaternen zurück, Pfeifen bedeutet, dass das Theater gleich abbrennt. In Polen gibt man sich da pragmatischer: Wenn auf der Bühne gepfiffen wird, könnte es schnell dazu führen, dass gleich die ganze Aufführung vom Publikum ausgepfiffen wird. Und für beide gilt: Private Hüte und Mäntel werden auf der Bühne nicht getragen.

Ehe das reichlich gedeckte Büfett eröffnet wurde, ging es nach der Klärung der Theaterbräuche sportlich zu. Zwei deutsch-polnische Mannschaften traten zu einem Lauf-Quiz gegeneinander an, um Fragen rund um Frau Luna zu beantworten. In der jeweiligen Landessprache, versteht sich. Als die Kollegen am fortgeschrittenen Abend zum Karaoke aufgerufen wurden, fanden sich sämtliche Pop-und Schlagerikonen auf der Bühne wieder. Der Abend, der natürlich viel viel länger wurde als gedacht, schaukelte sich zu einem gegenseitigen Singen und Tanzen hoch, wie es die strenge Choreografie der Frau Luna niemals hergegeben hätte. Ein Erlebnis, das uns allen im Gedächtnis bleiben wird!”

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