Nathan McCullen, Bühne: Barney George, im Video: Sara Bahadori, Foto: Simon Warner

Im Theater an der Parkaue hatte am Dienstagabend “The Worm Collector” von Jodie Marshall Premiere, ein Gastspiel der West Yorkshire Playhouse Touring Company aus Leeds. Ein ganz junger Schauspieler tritt darin auf, Nathan McCullen, der kaum älter wirkt als die Berliner OberschülerInnen im Publikum. Hi, sagt er, und in das, was er danach sagt, muss man sich erst einmal einhören, denn er spricht – Leeds liegt im Norden Englands – wirklich breit und schnell. Auch manche derjenigen, die sich später in der Publikumsdiskussion souverän auf Englisch zu Wort melden, scheinen hier nicht immer ganz mitzukommen. Schnellzusammenfassungen von Schlüsselpassagen werden im Flüsterton durchgereicht. Und vor allem am Ende, nach dem Schlussbeifall, muss in kleinen Gruppen rasch geklärt werden, ob Mark, die Hauptfigur, von Gary getötet wurde oder im Gegenteil ihn umgebracht hat – schließlich hatte er doch das Messer, oder?

Es ist eine raffiniert spielerische, kunstvoll beiläufige, körperlich spannungsvolle, teilweise fast getanzte Inszenierung. Ein Darsteller in mehreren Rollen und ein Videobeamer, der eine Familien-Normalität so dokumentiert, dass man von Anfang an ahnt, dass sie endgültig verloren ist. Mark ist im Wartezimmer eines Krankenhauses und zeigt, während er auf seine schwangere Mum wartet, die Aufnahmen, die er von seinen Verwandten und Freunden für den großen Narben-Wettbewerb gemacht hat: Wer hat die größte und war dafür am tapfersten. Es sieht irgendwann ziemlich gut aus für die Kaiserschnittnarbe der Mutter.

Nathan McCullen als Narbensammler Mark, Foto: Simon Warner

Aber da ist doch auch dieser Gary aus der Schule, mit dem Mark viel mehr zu tun hat, als er will. Da ist doch dieses Messer aus dem Angelkasten des Großvaters. Und der Rat des Großvaters, im Kampf am besten immer genau auf den loszugehen, an dessen Haken man hänge. Sowieso ist es Zeit, erwachsen zu werden, wenn Mum noch ein Baby bekommt. Und als Gary ihm wieder einmal zu nah kommt, als er ihn anrempelt oder umarmt, da holt Mark das Messer hervor und sticht – oder wird erstochen?

Wie in Alejandro Amenábars Film „The Others“ stellt sich am Ende heraus, dass man zu Besuch im Jenseits war. Mark will seine eigene, alles übertrumpfende, vorschriftsmäßig wie ein weißer Wurm aussehende (daher der Titel! wobei Mark außerdem tatsächlich Angelwürmer für den Opa sammelt) Narbe zeigen und zieht sein Hemd hoch – aber es ist nichts zu sehen! Er selbst war derjenige, der letztlich verblutet ist, und als er seinen Vater eingangs erschüttert sagen hörte „My Baby!“, war nicht die neue Schwester gemeint, sondern eben er, wie er unrettbar auf dem Operationstisch lag.

Vier Jahre Erziehungsanstalt für Messerbesitz

Das ist unsentimental emotionalisierendes, sehr direktes Theater; dafür gemacht, in Schulen oder Jugendzentren vor jungen Zuschauern gezeigt zu werden, die mit Messerstechereien (knife crime) eigene Erfahrungen haben. Wovon es in Großbritannien so viele gibt, dass schon der bloße Messerbesitz inzwischen mit  vier Jahren Erziehungsheim geahndet wird, wie Mark Cooper nach der zweiten Aufführung am Mittwochvormittag im Publikumsgespräch berichtet.

Mark Cooper trägt ein schwarzes T-Shirt mit üppigem Goldaufdruck und ist Mitarbeiter der Waffensammlung The Royal Armouries in Leeds. Er war es, der die Regisseurin Gail McIntyre (die ebenfalls zum Gespräch erschienen ist) angeregt hat, mal ein Stück zum Thema zu machen. Und er ist es, der die Berliner OberschülerInnen fragt, ob sie glauben, ein Messer könne zur Verteidigung taugen.

Die Jugendlichen, die vorher schon angegeben hatten, dass Messer oder überhaupt Gewalttätigkeit in ihrem Alltag und Umfeld keine Rolle spielen würden, schwiegen eine Zeitlang. Dann sagt ein Junge leise auf englisch, dass man sich mit einem Messer verteidigen könne, wenn man jemand anderen damit angriffe. Das wird kaum gehört, er soll es wiederholen, erst auf englisch, dann auf deutsch, und Anne Paffenholz, die Theaterpädagogin des Theaters an der Parkaue, anwortet ihm rasch, dass das ja noch mehr Probleme schaffen würde.

Mark Cooper aber, der Waffenspezialist, hat es richtig verstanden und nickt mit dem Kopf. Ja, sagt er, genau: Mit einem Messer könne man immer nur angreifen. Es sei von Anfang an und ausschließlich dafür geschaffen, Fleisch zu schneiden. Und wenn man sich darauf einlasse (oder sagte das jetzt Gail McIntyre?), könne man durchaus durch das eigene Messer umkommen.

Damit war – obwohl noch eine Weile geredet wurde – alles gesagt. Eine deutsche Fassung für die deutsche Zielgruppe wäre schön. Und Mr. Cooper sollte bei Gelegenheit vielleicht noch die Website der Royal Armouries auf den neuesten Stand bringen. Dort nämlich werden sowohl Pistolen als auch Schwerter noch unter dem Stichwort „Selbstverteidigung“ geführt.

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