Im August 2010 war Regisseur Bernhard Mikeska mit Dramaturgin Hannah Schwegler, Bühnenbildnerin Dorothee Curio und Autor Lothar Kittstein in Sibiu. Lothar Kittstein schrieb den folgenden Text:

Johann, der nur mit Badehose bekleidet, im kanalisierten Dorfbach steht und eimerweise Wasser auf die staubige Dorfstraße vor seinem Haus schüttet.

Hans, der im Wohnwagen am Fuß des Burgbergs haust, fünf Katzen, Meerschweinchen, einen Hund, Ziegen und eine Kuh sein eigen nennt und trotz kaputter Hüfte täglich quer durchs Dorf auf einen Berg zu seinem Feld geht.

Brennend-saurer Wein aus Plastikflaschen.

Die alte Frau Teutsch, ihre Augen groß hinter den dicken Brillengläsern, als ob sie ständig darüber staunte, noch hier zu sein – Jahrzehnte nach ihrer Deportation ins russische Kohlebergwerk. Ihre knotigen, verkrümmten Hände, mit denen sie in ihrer niedrigen Küche Birnen schält.

Die Dörfer, wehrhaft gegen die eigenen Hauptstraßen abgeschottet, die Häuser dicht an dicht, aneinandergedrängt, kein Vorgarten, kein Bürgersteig. Schweigende Fassaden in der Mittagshitze.

Konstantin, der Musikmanager, der im deutschen Restaurant von Sibiu auf die Deutschen schimpft:

“Ihr seid tot, ihr seid impotent, ihr werdet aussterben. Ihr habt keine Zukunft, weil ihr keinen Sex habt, ich sage, fuck you! Fuck you, Deutschland!”

Das sind die ersten Bilder, die hochkommen, wenn ich mich an die Zeit in Sibiu zurückerinnere.

Die herausgeputzte Innenstadt, ein Überbleibsel der europäischen Kulturhauptstadt 2007. Touristenkünstlichkeit. Aber schön. Noch nie so viele Geldautomaten auf einer so kurzen Strecke gesehen. Die Sisters of Mercy auf dem Großen Platz in einer stickig heißen Sommernacht, ein seltsames Relikt aus den 80ern, das sich in Nebelschwaden versteckt.

Auf einem Höhenrücken außerhalb der Stadt ein altes Denkmal. Wir liegen im Schatten des wuchtigen Ziegelturms, der den besten Aussichtspunkt markiert. Hier sollen die Nazis einen kolossalen Reichsadler errichtet haben. Im ersten Weltkrieg kamen hier hunderte deutscher Soldaten ums Leben – “aus allen Gauen des Reichs”, wie die inzwischen nach Michelsberg verlegte Gedenktafel informiert. Etwas weiter steht noch ein Denkmal für einen österreichischen General, der von hier aus, von wo man die ganze Senke, in der Sibiu liegt, übersehen kann, kurz zuvor eine andere Schlacht geleitet hat. Warum bist du nicht gestorben, Drecksack, denkt man. Aber jetzt ist er ja auch tot, macht es einen Unterschied?

Gemeindetreffen in Amnas/Hamlesch. Die Kirche wird nur alle zwei Jahre genutzt. Vier Gemeinden treffen sich hier, es sind 60 Leute. Wir sind die jüngsten. Zwei Jugendliche, die dazukommen, stellen sich als Besuch aus Deutschland heraus. So ist es fast immer – wer jung ist, kommt nur zu Besuch. Zwei Fahnen hängen über den halbleeren Reihen, die eine sagt stolz: “Männergesangsverein Hamlesch 1938”.

Fuck you, sagt Konstantin, er hat sie alle gehabt. Er konnte jede deutsche Touristin haben, als er in den 80er Jahren als Animateur an der Küste, fern von Sibiu, die Deutschen beglückte. Fuck you, sagte er, dass sie alle gleich nach der Wende panikartig in dieses sterile, impotente, zum Untergange verurteilte Scheißdeutschland abgehauen sind. Fuck you, er hat mal bei einem deutschen Architekten im Garten gearbeitet, und der erkannte seinen Garten erst nicht wieder, als er heimkam, aber dann hat er geweint. Er hat Konstantin angesehen und geweint, weil er merkte, wie sinnlos sein verschissenes kleines Leben war. Und dann haben sie Champagner getrunken und Zigarre geraucht.

Die Tränen in den Augen von Frau Teutsch, als sie vom Tod ihres Mannes berichtet. Krebs. Und dabei war er immer so ein starker Kerl gewesen. Der den Hof in Ordnung hielt. Jetzt kommt alles herunter, da sind sich viele einig. Rumänen und Zigeuner können es nicht. Schafe züchten, das kriegen die Rumänen hin, sagt einmal jemand.

Eine 50jährige Schauspielerin, die in Deutschland mit den ganz Großen gearbeitet hat, lebt jetzt im Dorf. Das Bad wird mit Holzofen beheizt. Es starrt vor Schmutz, sie hat drei Hunde. Eine alte Deutsche lädt uns in ihr Haus ein, das mit Trachten vollgestopft ist – jede Ecke, jede Schublade voll mit Trachten, selbstgenäht für eine Enkelin, die nie kam. Die Söhne sind alle in Deutschland.

Es ist eine seltsame Halbwelt, an die ich mich erinnere. So wenige, die übrig blieben. Eine tapfere Gemeinschaft. Nicht isoliert, sie alle sprechen Rumänisch, sie haben alle Kontakte, die meisten stehen mitten im Leben, und dennoch ist es für uns als Außenstehende ein merkwürdiges Gefühl von Wehmut, das diese Gegend durchdringt. Ich habe mich immer über die Vertriebenenverbände aufgeregt – und tue es noch. Trotzdem, vor Ort bemerkt man, spürt man, wie tief der Verlust sein kann, selbst wenn man, wie hier viele, freiwillig ging, sobald es möglich war. Jetzt sind es die Rumänen, die die deutsche Sprache weiterpflegen. Deutsche Schulen sind beliebt, es gibt rumänische Tanzgruppen, die deutsche Traditionen pflegen, ohne einen einzigen Deutschen. Das ist karrierefördernd, zu einer guten Ausbildung gehört es, Deutsch zu sprechen, dann schafft man vielleicht den Sprung nach Westeuropa, kann Fuß fassen. Raus aus der Armut, die in Sibiu nicht so sichtbar wie in Bukarest, aber vorhanden ist. Kaum einer kann von einem Beruf leben. Und dann gleich wieder der Zweifel – ist das nicht eine seltsam imperialistische Kulturpolitik, die mit deutschem Geld deutsche Schulen in einer Stadt fast ohne Deutsche fördert? Dann wieder das Altersheim, das mit Mitteln des Bundesinnenministerium für deutsche Senioren gebaut wurde, und man denkt: Es sieht grauenhaft, klaustrophobisch aus, aber vielleicht ist es für die Übriggebliebenen tatsächlich die schönste Art, den Lebensabend zu verbringen? Miteinander, Volkslieder singend? Dann wieder das Bild vom Gemeindetreffen – wo, als der Pfarrer die Lieder anstimmte, plötzlich Gesangsbücher verteilt werden mussten, weil kaum jemand noch die bekannten Volkslieder auswendig singen kann.

Fast jeder, den man in Sibiu auf der Straße trifft und der Deutsch spricht, kommt zu Besuch. Viele, die ihre Angehörigen sehen wollen. Viele, die nur die alte Heimat besuchen, in der schon niemand mehr lebt, für den es noch Heimat ist. Aber was ist Heimat? Die aktuelle, in der man lebt, und in der man, wie der Kosmopolit Konstantin, Deutschland wie auch Rumänien ein trotziges Fuck you! entgegenschreit? Oder eher die Erinnerung? Oder die wiederentdeckte der Rückkehrer, die es auch gibt? Wie für den Manager, der arbeitslos wurde und jetzt einen Vertriebsposten für Rumänien bekommen hat – während er erfolglos versucht, den alten Weinberg der Familie, den die Kommunisten enteignet hatten, wiederzubekommen, der direkt vor dem Haus liegt. Wir sehen den Berg. Ich wäre nie darauf gekommen, dass hier mal Wein wuchs. Wildnis sehe ich. Und es sieht schön aus. Für diesen Mann ist es eine Wunde, die sich nicht schließen will. Vielleicht ist das Heimat in Siebenbürgen. Eine Wunde, die sich nicht schließt. Und die auch keiner schließen will. Die sich aber schließen wird. Denn in wenigen Jahrzehnten, da sind sich fast alle einig, lebt hier keiner mehr, der deutsch ist. Wir erleben eine untergegangene Welt, die weiter untergeht, ein jahrzehntelang hinausgezögerter Untergang. Vielleicht ist das Heimat. Das, was untergeht. Was vergangen ist, was immer aufs Neue täglich vergeht und nie wiederkommt und doch immer bleibt.

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