Am kommenden Samstag, den 5. November wird in Paderborn zum ersten Mal in Deutschland das Stück Das weiße Zimmer auf die Bühne gebracht. Bereits im Juni dieses Jahres hatte die gemeinsame Koproduktion der Westfälischen Kammerspiele Paderborn und des Huajuyuan-Theaters in Qingdao Premiere in China. Der Autor des Stückes Andreas Sauter schreibt vorab, wie es zum Stück kam, wie er sich dem Thema des Stückes genähert hat und was er bei dieser grenzüberschreitenden Arbeit entdeckte:

Als ich vom Theater Paderborn und dem Huajuyuan Theater in Qingdao angefragt wurde, das Stück für die deutsch-chinesische Theaterkoproduktion zu schreiben, war das wie ein Lottogewinn. Als Autor ist man meist an die eigene Sprache und damit an den eigenen Kulturkreis gebunden. Mich nun mit einer anderen, mir total fremden Kultur und Welt auseinander zu setzen, hat mich unglaublich gefreut. Gleichzeitig hat genau das viele Fragen gestellt. China war für mich ein weißes Blatt Papier. Ein blinder Fleck auf einer Landkarte. Ich wusste nichts über dieses Land. Oder sagen wir fast nichts. Ein paar Schattierungen vielleicht, einige Klischees. Aber was für eine Kultur ist das? Welche Traditionen gibt es? Was für Theater? Wie sind die Menschen? Wie das Leben?

Das weiße Zimmer © Westfälische Kammerspiele Paderborn

Ich hatte zu diesem Zeitpunkt nicht eine einzige, persönliche Erfahrung. Und ich kann nicht einmal jetzt behaupten, nachdem das Projekt fast abgeschlossen ist, dass ich weiß, wie China ist. Im Gegenteil: Je mehr ich über dieses Land erfahren habe, desto weniger weiß ich.

Aber ich kann über meine Bilder von diesem Land sprechen, über das, was ich während dieses Austauschs erlebt habe. Was mir aufgefallen ist. Was mich zum Staunen und Nachdenken gebracht hat. Eine Annäherung an das, was China vielleicht auch ist.

Auch im Stück habe ich mich für die Annäherung entschieden. Die Enkelin erfährt durch ihren Großvater über China und seine große Liebe zu Mei Lin, sowie durch Tagebücher, Briefe und Fotos. Auch die Geschichte von Mei Lin erfährt die Enkelin – und mit ihr der Zuschauer – nur indirekt. Mei Lin spricht nicht mehr. Sie steht nur da, lächelt und verschwindet dann in ein weißes Zimmer. Ihre Freundin spricht für sie. In einer poetischen Sprache, die auch ein Geheimnis lässt. Man kann Mei Lin zwar erleben und erfahren, aber es entsteht kein eindeutiges Bild von ihr. Ah, so und so ist die… So und so war das.

So wie ich mich China angenähert habe, nähern sich die Zuschauer nun dem Leben der beiden Hauptfiguren und damit auch einer chinesischen Welt. So dass die weiße Landkarte immer mehr Konturen bekommt, Berge, Täler, Klippen, Felsen, Höhen und auch Abgründe.

Der Wunsch der beiden Theater, ein Märchen für Erwachsene zu schreiben, hat mir auch geholfen. Ein Märchen kommt nicht nur aus einer Art zeitlosen Vergangenheit, sondern schafft immer auch eine eigene Welt. Eine nicht reale. Eine, die ich erfinden konnte und mit ihr – oder sollte ich besser sagen in ihr? – auch ein China meiner Vorstellung.

Lange habe ich überlegt, wie ich das China von heute zeige, wenn die Enkelin nach Großvaters Tod am Ende des Stücks nach China fährt, um an seiner Stelle Mei Lin zu suchen. Wie kann ich darüber schreiben, ohne in einen Realismus zu verfallen, der womöglich noch falsch ist? Wie zeige ich das, was ich erlebt habe, was ganz anders war, als das was ich erwartet hatte? Das Bunte, das Lebendige, das Offene, das Herzliche, die Wärme?

Ein Bild dafür habe ich im Aquarium in Qingdao gefunden, als ich nach einem Drachenzahn gesucht habe, der dort ausgestellt ist. Es war wie oft bei der Recherche. Man findet, dort wo man etwas sucht, nicht das, was man sucht und dann wiederum fällt einem etwas zu, wo man es nicht erwartet. In einem dunklen Raum trieben in beleuchteten Zylindern Quallen in allen Farben. Das ist es. Dieses Bild. Das Fliessen, Schweben, dieses schwerelose Bewegen. Wie ein Tanz. Ein Zauber. Es hatte viel von China, wie es mich empfangen hat.

Aber erst einmal habe ich gelesen und mit allen über China gesprochen, die schon mal dort waren. Über Monate habe ich gelesen. Romane, Theaterstücke, Geschichts- und Sachbücher, Tagebücher, unzählige Bildbände, Reiseberichte. Die größte Entdeckung war für mich die chinesische Mythologie. Zum einen der riesengroße Schatz an Geschichten, zum andern die Referenz an eine andere Welt. In eine andere Zeit.

Das weiße Zimmer, Ensemble © Westfälische Kammerspiele Paderborn

Das weiße Zimmer, Ensemble © Westfälische Kammerspiele Paderborn

In Mythen geht es darum, Antworten zu geben für Unerklärliches. Über unsere Herkunft. Über die Entstehung der Welt. Wie etwas zu sein begann. Sie haben etwas Zeitloses. Und auch sie sind eine Annäherung. Denn es gibt nicht die Mythen in der chinesischen Tradition. Jeder Kaiser, jede Dynastie hat sich dieselben Geschichten umgedichtet und überformt, so dass sie ihr Reich, ihr Leben und ihre Macht erklären konnten und legitimieren.

Irgendwas berührte mich da. Streifte mich. Als würde sich eine Tür einen Spaltbreit öffnen. Die chinesischen Kollegen waren überrascht, dass ich vorhatte damit zu arbeiten. Die Mythen sind heute fast verschwunden. Vor allem in der jüngeren Generation. Die zwanzigjährige Übersetzerin, die mir während den Recherchen zur Seite stand, kannte die Geschichten oft selbst nicht mehr. Das hat mich darin bestärkt, im Stück eigene Variationen einzelner Mythen einzubauen. Es würde also nicht nur für ein deutsches Publikum etwas zu entdecken geben. Das war immer wieder eine wichtige Frage: Wer kann was entdecken? Im Fremden, manchmal vielleicht auch Befremdlichen, aber auch im Eigenen? Und damit auch sich selbst noch einmal neu erfahren.

Das andere, was mir bei dem Austausch und der Annäherung wichtig war, war das Staunen. Immer wieder dazustehen und zu staunen. Auch als ich für die Recherchen zum ersten Mal nach China gereist bin. Ich war so nervös wie nie zu vor. Wie wird das sein? Was wird mich erwarten? Es war so anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Erstaunlicherweise viel weniger fremd. Überhaupt nicht formell, distanziert, in Floskeln von Höflichkeit verschwindend…

Ich kam an und wurde an die Hand genommen. Sehr herzlich und direkt. Die Menschen waren mir sehr nah. Auch im Humor. Und ich war überwältigt. Von den Dimension, den Gerüchen, den Bildern, dem Bunten, den Märkten, dem Geschmack von Dingen… Auch vom Theater. Es war sinnlich, sehr körperbetont, oft mit fast cineastischer Musik und realistischer als bei uns. Was mir gefallen hat, waren die große Geste, der Mut zum großen Gefühl. Ich saß im Theater und dachte: Gut, sehr gut, endlich kann ich das mal ausprobieren. Und es passte auch zu meiner Idee, für dieses Projekt eine tragische Liebesgeschichte zwischen einer Chinesin und einem Deutschen zu schreiben. Da werden wir uns finden. Im Verlorenen. Im nicht gelebten Leben. In der sehnsüchtigen Phantasie. Was wäre gewesen wenn…

Das habe ich mich auch gefragt, als ich diesen Sommer in Qingdao in der Premiere saß. Wie würde das Stück aussehen, wenn es eine chinesische Autorin oder ein chinesischer Autor geschrieben hätte? Bestimmt ganz anders. Denn bei aller Annäherung: Ich werde kein Chinese werden. Höchstens im nächsten Leben vielleicht.

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