Haide ist ein balkanisches Allround-Wort, das von Ljubljana bis zum Bosporus verwendet wird und eigentlich soviel heisst wie: “Auf gehts!”, “Los!”, “Lass uns…!”. In unterschiedlichen Kontexten kann es aber durchaus verschiedene Inhalte transportieren. Da man es auch gebrauchen kann, um zum gemeinsamen Anstoßen aufzufordern, kann man es in Bulgarien eigentlich immer sagen.
Auch auf unseren Proben fällt das Wort häufig. Abgesehen davon, dass es im Stück selbst recht häufig vorkommt – Haide, auf die Freundschaft!; Haide, komm her!; Haide, mach voran!; Haide, scheiss drauf! – wird es auch benutzt, wenn eine Diskussion auf der Probe zu lange dauert (Haide, lasst es uns ausprobieren!) oder wenn eine Zigarettenpause wieder einmal die dreißig Minuten überschreitet (Haide, wollen wir mal wieder?).

In der Pause steht und sitzt man zusammen im Treppenhaus, raucht und unterhält sich. Fjodor, der Requisiteur, sitzt mit zufriedenem Lächeln in einer Ecke und bläst Ringe in die Luft, Minscho, der technische Direktor klebt, assistiert von drei Kollegen, eine deutsche Bundesligatabelle an die Wand. Das Treppenhaus ist bei Mitarbeitern aller Abteilungen beliebt und das Kernstück des internen Kommunikationskonzepts. Da ein hartnäckiger Stamm sitzstarker Kollegen durchgehend die Stellung hält, ist eine lückenlose Nachrichtenübermittlung gewährleistet. Es bedarf meist einiger hartnäckiger “Haide”s von unserer Regieassistentin Dora, um die kommunikationsfreudigen Schauspieler wieder auf die Probebühne zu scheuchen.

Was die Probenarbeit selbst betrifft, ist es eigentlich genauso wie bei uns. Der eine kann sich nichts merken, der andere meint, das hatten wir letztes mal aber anders verabredet, und der dritte weiß es besser. Das außergewöhnliche an dieser Arbeit ist eigentlich nur, dass es in diesem Fall einen Kollegen gibt, der all das auch noch auf einer Fremdsprache tut.

Die Geduld der bulgarischen Kollegen wird insbesondere dann strapaziert, wenn ich einen Texthänger habe. Der Großteil meines Textes ist auf Deutsch. Da Dora des Deutschen nicht mächtig ist und nur eine bulgarische Textfassung vor sich hat, kann sie mir nur auf Bulgarisch soufflieren. Da mir das in den seltensten Fällen auf sie Sprünge hilft, muss Bojan, unser Regisseur, meist beispringen und übersetzen. Da die naheliegendste Übersetzung häufig nicht der vom Autor in der deutschen Textfassung gebrauchten Formulierung entspricht, muss nun erst der deutsche Text hervorgekramt werden – unnötig zu erwähnen, dass dieser eine vollkommen andere Seitenzählung als der bulgarische hat – nur damit mir, kurz bevor Bojan die Stelle gefunden hat, der Text doch noch einfällt.

Einige bulgarische Kollegen haben mittlerweile die Zeit zu einer Zigarettenpause genutzt, und nachdem Dora sie aus einer lebhaften Diskussion (Bayern gegen Schalke 1:0!) im Treppenhaus zurück auf die Probebühne komplimentiert hat (“Haide!”), fällt mir auf, dass in Deutschland eigentlich kein Mensch mehr “Burschen” sagt – und ob wir das nicht ändern könnten. Nachdem ich mich mit Bojan auf “Jungs” geeinigt habe, spielen wir weiter, merken aber – als das Stichwort an einen Kollegen kommt – dass der betreffende Kollege gar nicht auf der Bühne ist. Auch im Treppenhaus kann Dora ihn nicht finden. Immerhin trifft sie dort einen anderen Kollegen (er wäre zwei Repliken später dran gewesen), der zu berichten weiß, dass der erste Kollege Zahnschmerzen gehabt habe und schnell zum Zahnartzt sei – er käme aber danach gleich wieder.
Ein dritter Kollege schlägt als sinnvolle Zeitüberbrückung eine Pause vor und nachdem der Vorschlag einstimmig angenommen wird, werden wir im Treppenhaus mit der Nachricht empfangen, dass heute Abend Gastspiel in Schumen sei. Da wir deshalb ohnehin früher Schluss machen müssen, macht es eigentlich kaum noch Sinn, die Probe nach der Rückkehr des Schmerzpatienten fortzusetzen. Die Kollegen packen gerade ihre Sachen zusammen und ziehen sich um, als der erste Kollege vom Zahnarzt zurückkommt. Da ein anderer Kollege jedoch bereits nach Hause gegangen ist, lohnt es nicht mehr, nochmal mit Proben anzufangen.

Am nächsten Tag hat Boian den Satz mit den Jungs gestrichen.

Haide!

Tags: , ,

0 Comments

leave a comment

You must be logged in to post a comment.