Die letzten drei Wochen gehörten in Berlin eindeutig dem polnischen Theater. Beim bereits dritten Polski Express im HAU gastierten u.a. Handkes “Kaspar” von Barbara Wysocka, “Das gelobte Land” von Jan Klata und “Apol(l)onia” von Krzysztof Warlikowski: ein junger Formversuch, eine politisch deutliche, ästhetisch eher plakative Stellungnahme zur Geschichte und eine intelligente, kraftvolle, aber auch etwas sentimentale Breitwandcollage zum Thema Opfer-Sein und Opfer-Bringen. Da hatte man innerhalb weniger Tage den Nachwuchs, das in Polen bereits etablierte politische Theater und den europäischen Festivalstar vor Augen.

In der Volksbühne war im Rahmen eines Spanien-Schwerpunkts letzten Sonntag dann das Madrider Teatro de la Abadía mit “Fin de Partida” zu sehen – Becketts “Endspiel” in einer psychologisch erlesenen, gewissermaßen goldgerahmten Inszenierung von Krystian Lupa, einem (wie sagt man es anders?) polnischen Altmeister, der sich auf Konrad Swinarski und Tadeusz Kantor bezieht. Und gestern wurde im Maxim Gorki Theater  “Czekajac na Turka” (“Warten auf den Türken”) von Andrzej Stasiuk gezeigt, eine Produktion des Stary Teatr Krakau, inszeniert vom Intendanten Mikolaj Grabowski (der als ein in den 40er Jahren Geborener zur Lupa-Generation gehört).

Jan Peszek als Ex-Grenzer auf dem Schlagbaum über schaumigem Boden. Foto: Kornecki

“Warten auf den Türken” (deutsch von Olaf Kühl) entstand letztes Jahr im Auftrag des Goethe Instituts als Teil der After the Fall-Reihe und ist in Deutschland bereits in Dresden und Mülheim/Ruhr gezeigt worden. Nach Berlin kam die Inszenierung im Rahmen der Wanderlust-Koproduktion des Gorki mit dem Stary Teatr (an der als Schauspielerin auch Barbara Wysocka beteiligt ist). Das Stück ist eine Tragikomödie, die an der ehemaligen polnisch-slowakischen Grenze angesiedelt ist. Ein ehemaliger Grenzer, die Besitzerin einer Bude für ehemals zollfreien Schnaps und ein Chor ehemaliger Schmuggler sind in diesem Niemandswinkel klebengeblieben und vertreiben sich die Zeit, als plötzlich ein Wachmann auftaucht, der verkündet, das Gelände sei von einem türkischen Investor gekauft worden.

Besser aufgenommen als überall sonst

Viel polnisches Publikum saß in der Vorstellung und brauchte nicht die deutschen Übertitel, um ihr zu folgen, und für die deutschen Berliner ist die Vorstellung eines “türkischen Investors” ja keineswegs provokant. Aber lag es nur daran, dass die Leute in keiner Weise befremdet, sondern vielmehr “dicht dran” und “dabei” waren, wie der Regisseur später beim Publikumsgespräch erfreut und verwundert fragte? Weder in Dresden, noch Mülheim, und nicht einmal in Krakau selbst wäre die Inszenierung so gut angenommen worden wie hier!

In Polen nämlich gehöre der im 17. Jahrhundert vor Wien doch vernichtend geschlagene “Türke” nach wie vor zu den “verachteten Völkern”. Ebenso wie die Bulgaren oder Rumänen, die aber zumindest christlich seien. Der polnische Chauvinismus (Grabowski sprach, übersetzt von Olaf Kühl, meist von “Xenophobie”) lasse die Vorstellung eines Ausverkaufs der eigenen Identität an einen türkischen Investor  – am Ende stellt sich auch noch heraus, dass es sich um eine InvestorIN handelt, die im Grenzgebiet einen Themenpark zum “Leben der Slawen an der Grenze” aufbauen will! – einfach nicht zu. Woraufhin sich leicht ein schwieriges Gespräch über polnischen Nationalismus hätte entwickeln können. Doch darauf waren diejenigen, die nach der Vorstellung ins obere Rangfoyer des Theaters geklettert waren, gar nicht erpicht.

Postmodern gewiefte Komödie mit Zusatzgewicht

Die Vorstellung sei von ihr vor allem als Theater geliebt worden, erklärte eine Frau, die sich als Schauspielerkollegin zu erkennen gab. “Ich habe ein Zusammenspiel gesehen, das nicht vom Kopf, sondern vom Herz gesteuert war. Das gibt es bei uns hier viel zu selten.” In der Tat wäre eine postmodern gewiefte Komödie mit politischem Zusatzgewicht aus deutscher Feder wohl nicht ohne Zynismus ausgekommen, während es Stasiuk bei der Ironie bewenden lässt. Und Grabowski hat wiederum liebevoll und lustig inszeniert und alle Figuren auf Augenhöhe angelegt, was heißt: sie agieren nicht nur als Funktionäre, sondern sprechen sich stets als Menschen an.

Wobei: Ist das nicht ein Ostklischee, dieses Du-Sagen und sich Als-prinzipiell-im-gleichen-Boot-sitzend-Begreifen? Oder doch ein wichtiges sozialistisches Erbe, das von der globalisierten Öffentlichkeit als Rollenmodell unbedingt geprüft werden sollte? In Berlin jedenfalls kam es ausgesprochen gut an und funktionierte auch in den Momenten, in denen die Grenzen zwischen den Figuren unüberwindbar waren. Eine deutsche Zuschauerin sagte, dass sie die Szenen besonders berührend fand, in denen die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen thematisiert wurde. Dieses “Was weißt du denn schon!” von Alt nach Jung gesprochen und das Schweigen des alten Grenzers auf die Frage des Chores, ob er, der Grenzer, denn nun seinerzeit einen Menschen erschossen hätte oder nicht. Ganz eng waren die Ex-Schmuggler da um diesen Edek herum, bedrängten, aber hielten ihn auch – und er blieb die Antwort schuldig.

“Tatsächlich sind uns die Alten sehr fremd”

Nachdem der Großteil des von dem Journalisten Thomas Irmer moderierten Publikumsgesprächs von Grabowski bestritten worden war – was sicher auch daran lag, dass der eloquente Regisseur direkt neben dem Übersetzer saß – richtete diese junge Zuschauerin ihre Frage nun direkt an die jungen Mitglieder des Ensembles: “Wie funktioniert denn bei euch der Dialog mit der älteren Generation? Gibt es den überhaupt?” Was Piotr Glowacki, der Darsteller des Wachmannes Patryk, eines “Teilzeitmigranten” (Thomas Irmer), der einige Jahre in London gejobbt hat und jetzt wieder zurückgekommen ist, sehr schnell und sehr klar ungefähr so beantwortete: “Diesen Dialog gibt es eigentlich nicht. Ihr Deutschen habt schon lange zu euren Eltern gesagt: ‘Es interessiert mich nicht, ob ihr in der Partei wart. Ich weiß nur, dass ihr damals gelebt habt!’ Wir hingegen fangen erst langsam damit an, uns mit der Vergangenheit zu befassen. Unter anderem, weil junge Leute wie ihr uns das fragt. Tatsächlich sind uns die Alten sehr fremd, und oft können wir uns mit jungen Deutschen besser verständigen als mit ihnen.”

Iwona Bielska als Schnapsbudenbesitzerin Marika. Foto: Ryszard Kornecki

Nur etwa 60 Kilometer sind es auf dem kürzesten Weg von Berlin nach Polen. Aber Polen ist natürlich ein großes Land. “529 km mit Zukunft” haben das Berliner Gorki Theater und das Krakauer Stary Teatr ihr Wanderlust-Projekt genannt. Der Schauspieler und Regisseur Milan Peschel wird mit einem gemischten Ensemble in Krakau im nächsten März Lubitschs “Sein oder Nichtsein” herausbringen. Die Berliner Premiere ist im April. Und ein mit deutschen und polnischen Performances bestückter Zug wird im nächsten Juni die Strecke zwischen den Städten abfahren – und dabei vielleicht das eine oder andere Stück neu vermessen.

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