Anderthalb Stunden polnische Dankesreden vom Intendanten und von Kulturpolitikern aus Anlass der Wiedereröffnung des Kurtheaters in Jelenia Góra und des 35-jährigen Bestehens des Animationstheaters – und ich verstehe kein Wort, schaue nur dem selig lächelnden, mit einer riesigen roten Fliege geschmückten Leiter Bogdan Nauka am Rednerpult zu. Oder ich lasse mich beim Blick zur Decke hypnotisieren: Da drehen tatsächlich grüne und violette Schneeflocken-Projektionen zur Feier des Tages ihre Kreise. Geradezu psychedelisch… Im Anschluss bitte ich die Übersetzerin Steffi Kutz um eine kleine Zusammenfassung der Reden, sie winkt freundlich ab: Die charmante Hilflosigkeit des Intendanten, als er seine Powerpoint-Präsentation nicht zu bedienen wusste, seine lockere Improvisation stattdessen, die alle Staatsgäste ganz selbstverständlich akzeptierten – das sage eigentlich mehr über die hiesige Kultur als alle Gratulationen. Auch die Foto-Show erklärt sich von selbst: Bisher war das Theater in rot-gold gehalten, sehe ich – nun strahlt es wieder in seinen Ursprungsfarben Blau und Silber.

Fast wortlos verläuft dann auch die Inszenierung „Hagazussa“ der polnischen Puppenspieler und der deutschen Tänzer im Anschluss. Grundlage war der gemeinsame schlesische Sagenschatz, herausgekommen ist nun ein Tanz-Puppenspiel über Hexen und deren Verfolgung im Neiße-Raum – ein Thema, das nicht nur mythisch, sondern auch historisch in der Region wurzelt. So eindeutig wird das auf der Bühne aber nicht sichtbar.

Hinter dichtem Nebel kommt ein Ascheberg zum Vorschein; ein großer Mann kehrt ihn zusammen, während das Pochen eines Herzschlags in ein lautes Wellenrauschen übergeht. Später wechseln sich die Töne mit Windsausen und Zischeln von knisternden Flammen ab. Auch die Tänzer greifen die vier Elemente in ihren erd-, wald- und feuerfarbenen Kleidern auf – wie Naturkräfte zertanzen sie nach und nach die Asche auf dem Boden und bewegen sich fließend zwischen drei Puppen, die sich auf der Bühne platzieren: Links kauert eine kindkleine, weiße, kahlköpfige Frauenfigur, geführt von einer Puppenspielerin mit hellblonder Perücke, das Haar fast bis zum Boden. Wie eine Mutter schützt sie die dünne, nackte Frau mit ihrem dichten Haarvorhang. Rechts und mittig macht sich ein grobschlächtiger, buckliger Bauer breit, Hände groß wie Schaufeln und von gleich drei Puppenspielern an Armen und Füßen bewegt. Hinter ihnen thront erhöht ein braunkuttiger Kleriker mit Helmut-Kohl-Gesicht und harter Gestik – in ihm stecken, für uns unsichtbar, zwei Puppenspieler.

Zunächst arbeiten die unteren Figuren im Einklang mit sich und der Natur: Die weiße Kräuterfrau pflanzt kleine Bäume im Ascheberg, der Bauer gräbt ihn mit seinen Händen um. Erst als die Stimme des Pfarrers dröhnt und er drohend polnische Worte wiederholt, gerät der Bauer in Panik, geißelt die Elemente und reiht sich schließlich ein bei den Tänzern (nun keine Naturwesen mehr, sondern Maschinenmenschen), die die schutzlose Frauenpuppe fesseln, mit sich zerren und auf den Ascheberg werfen. Es endet mit dem Mann vom Anfang, der die zertretene Asche erneut zusammenfegt – nur liegt dieses Mal eine tote Frau darunter.

Weil ich die wenigen Worte von Pfarrer, Bauer und „Hexe“ nicht verstehe, konzentriere ich mich in der einstündigen Performance auf die existenzielle Thematik: Machtgier wird hier verteufelt, aber auch die Einfältigkeit und blinde Angst des Mitläufers tötet schließlich Schuldlose. Die Übersetzung im Programmheft schränkt das Thema dann ein: „Folge deinem Glauben und du bist immer auf dem richtigen Weg“, hat der Pfarrer also in Endlosschleife wiederholt. Die Polen in Jelenia Góra müssen die Inszenierung viel kirchen- und glaubenskritischer verstehen, als die Görlitzer und ich das ohne Übersetzung tun. Stringenter wäre, was Regisseurin Steffi Sembdner selbst schon einräumte: ganz auf Sprache zu verzichten und sich auf die Stärken der Darsteller zu konzentrieren – das wortlose Spiel. Trotz manch überbordendem Pathos und der schematischen Schwarz-Weiß-Zeichnung der Figuren geht die Symbiose zwischen Tänzern und Puppenspielern nämlich gut auf. Wo der Tanz zu abstrakt wird, bilden die Puppen den konkreten Anker; wo die Puppenspieler zu statisch agieren, halten die Tänzer das Spiel bewegt.

So stürmisch und begeistert, wie die Crew hoffte, reagierte das Festtagspublikum nicht auf die Inszenierung – eher nachdenklich, möglicherweise bewegt. Von der Kirchenkritik, so erzählen die Theaterleute am nächsten Tag, haben sich die Gäste aber nicht angegriffen gefühlt: „So viel Konservatismus herrscht hier dann doch nicht mehr“, meint Steffi Kutz. Und doch: Die Ächtung beispielsweise geschiedener Frauen durch die katholische Kirche ist in Polen nach wie vor groß und oft belastend, sagen die Puppenspieler. Mit dem Thema der unterdrückten und gegeißelten Frau kann jedenfalls auch Jahrhunderte nach der Hexenverbrennung jeder etwas anfangen.

Mal ganz abgesehen vom Thema und der Resonanz beim Publikum: Wesentlich ist bei der Kooperation die Annäherung der polnischen und deutschen Künstler im Grenzgebiet Schlesien. Nach wie vor gibt es Görlitzer, erzählt mir Steffi Kutz, die keinen Schritt über die Brücke nach Polen machen. Und im Alltag bleiben sogar die allermeisten auf ihrer Seite der Grenze: „Ich war selten in Polen, dabei wohne ich schon drei Jahre hier“, sagt selbst Steffi Sembdner. Erst das Projekt mit Jelenia Góra hat ihr die Menschen in Polen deutlich näher gebracht. Bis vor ein paar Jahren noch gab es am Görlitzer Theater ein Abo-Programm, das die polnischen Nachbarn monatlich zu einer polnischsprachigen Aufführung einlud. Doch seit der Deutsche Bühnenverein das Projekt nicht mehr finanziert, ist Theaterpublikum aus Polen hier selten. Vom Gerhart-Hauptmann-Theater selbst ist wenig zu erwarten, es fehlt schlicht das Geld: Die Mitarbeiter verzichten wegen der desaströsen Finanzlage momentan auf 20 Prozent ihres Gehalts, bis 2016 sollen in Görlitz und Zittau 30 Stellen abgebaut werden – da braucht man über die Finanzierung internationaler Vorhaben gar nicht erst nachzudenken. Momentan wird die gemeinsame Kulturregion nicht nur von einer Landesgrenze geteilt, sondern auch immer noch von vielen Ressentiments auf beiden Seiten.

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