Im russischen Kisseljow-Jugendtheater wimmelt es von Superlativen: Nach der ältesten Inszenierung (64 Jahre) am ältesten Kinder- und Jugendtheater der Welt (94 Jahre) sehe ich heute die kürzeste Aufführung (40 Minuten)  für die jüngsten Zuschauer (ab 2 Jahre) – es ist das Kooperationsprojekt „…und über uns leuchten die Sterne…“, gemeinsam erarbeitet mit dem Theater Junge Generation (tjg) in Dresden.

Ania Michaelis, Regisseurin und Oberspielleiterin des tjg, hat dafür als zentralen Punkt den Moment vor dem Einschlafen eines Kindes gewählt, wenn sich im Kinderzimmer aus Schatten Monster formen, Geräusche plötzlich lauter, anders klingen, die Lichter von der Straße Zeichen zu senden scheinen und die lachenden Eltern im Wohnzimmer einer anderen Welt angehören. Es ist der Moment der Trennung, an den Kleinkinder sich allabendlich gewöhnen müssen und der mehr bedeutet als nur die Augen zu schließen. „Jeder von uns wird allein einschlafen und wir sind glücklich, wenn wir angelächelt werden vor jedem Abschied“, beschreibt es Michaelis in ihrem „poetischen Konzept“. „Dann erst gleiten wir ins Licht der Nacht, in die Einsamkeit unserer Körper, in einen Traum.“ Es ist zum einen ein universelles Thema, zum anderen eines, das ohne Sprache, aber mit vielen Bildern, Symbolen, Lauten erzählt werden kann – gut gewählt also für eine russisch-deutsche Koproduktion.

Michaelis ist eine der erfahrensten Regisseurinnen des „Theaters für die Allerkleinsten“ in Deutschland, wie sich das recht neue Genre nennt; seit 2005 inszeniert sie auch für Kleinkinder. Norwegen, Italien und Frankreich sind auf dem Gebiet Vorreiter, Deutschland liegt etwa im Mittelfeld, für Russland ist es noch Neuland. Am Kisseljow-Theater gibt es zumindest schon eine Aufführung „ab eins“ – Ziel der Kooperation mit dem tjg ist es, auf diesem Gebiet professioneller zu werden.

Das bedeutet aber nicht nur, sich auf ein anderes Publikum einzustellen, sondern auch, sich einer ganz neuen Arbeitsweise zu öffnen. Schließlich sind die Kinder zum allergrößten Teil zum ersten Mal im Theater und haben noch keine Erwartungshaltung an das, was hier passiert. „Dass Theater eine Geschichte erzählen kann, ist für sie genauso neu wie alles andere”, beschreibt es Ania Michaelis, als wir uns in Berlin zum Gespräch treffen. Das Abstraktions- und Vorstellungsvermögen der Kleinkinder ist grenzenlos – deshalb sind Klänge, Bilder, Bewegungen meist wichtiger als Sprache. Die Schauspieler müssen außerdem noch sensibler für die Reaktion des Publikums sein; eine vierte Wand können sie vor den Kindern gar nicht erst aufbauen. Und: Nur „ernsthaft“ spielen macht hier Sinn. „Bei den sehr kleinen Kindern ist die ganze Welt noch neu“, erklärt Michaelis. „Es gibt für sie keine Ironie, keine zynische Distanz. Wir müssen konkret sein, müssen meinen, was wir sagen, tun, spielen.“ Reine „l’art pour l’art“ scheitert hier, „man muss ganz elementar werden und überlegen: Worum geht es mir wirklich bei dieser Geschichte?“

Hätten Sie's gewusst? Hier die "Kleine Bühne"

Hätten Sie's gewusst? Die "Kleine Bühne"

Nachdem ich nun bereits zwei Produktionen in Saratow gesehen habe, verstehe ich, dass die Herausforderung dieser Kooperation noch größer für die russischen Darsteller sein muss als für manch deutschen Schauspieler, der ans postdramatische Theater gewöhnt ist. Puschkins „Die Hauptmannstochter“ etwa geben am Kisseljow-Theater knapp 25 Mitglieder des 58 köpfigen Ensembles als ein Historienspiel für Jugendliche im Stil deutscher Geschichtsjubiläumsfilme wie „Friedrich – Ein deutscher König“: große Gesten, pompöse Kostüme, viele Special-Effekte, laute Musikuntermalung zum Spannungsaufbau – ein Spielfilm auf der Bühne. Es muss schon seltsam sein, zuvor am Nachmittag auf der kleinen Bühne „…und oben leuchten die Sterne….“ mit Kissenschlacht und direktem Kontakt mit den Kindern zu spielen. Ania Michaelis kann eine große Verwunderung der Schauspieler bei der Probenarbeit bestätigen: „Für sie war es extrem ungewohnt, das Publikum einzubeziehen und so sehr für die eigene Figur einzustehen.“ Auch der teils kollektive Arbeitsprozess hat sie überrascht. Begeistert erzählen sie mir nach der Kleinkinder-Aufführung, wie sie zu Probenbeginn in Workshops ihre eigenen Kindheitserinnerungen ans Einschlafen eingebracht haben, die dann in die Inszenierung einflossen. „Oft ist es eher so“, sagt Alexey Chernyishov, einer der großen Protagonisten im Ensemble, „dass jeder Schritt vom Regisseur vorgegeben wird.“

Die Schauspieler lieben diese Inszenierung, das sagen sie nicht nur, man sieht es ihrem Spiel auch an. Als Vater, Mutter, Sohn und Tochter turnen sie mit so viel Freude und Energie über das große Bett auf der Bühne, dass ich ganz vergesse, wie alt sie im wirklichen Leben sind. Zum Zubettgeh-Ritual gehören in dieser Familie so viele schöne Spiele, dass man am liebsten wieder klein sein möchte: Damit der Junge als Astronaut ins Weltall fliegen kann, spielt seine Mutter mit voller Inbrunst den Fluglotsen und die ganze Familie schwebt Sekunden später schwerelos mit ihm durch den Weltraum. Und wenn sich das Mädchen das „Haus-Spiel“ wünscht, krabbeln Vater und Mutter mit ihr durch die unsichtbaren Türen des imaginierten Hauses, als könnten sie sich nichts Spannenderes vorstellen. Liebevoll necken sie sich, bilden Grüppchen, um am Ende eines Spiels wieder eine Familie zu werden. „Schade nur, dass die Aufführung so schnell um ist, wir haben so einen Spaß dabei“, schwärmt Alexey Krivega, der den Sohn spielt.

FamilienkissenschlachtAlexey Krivega als Pilot

Ania Michaelis hat eine sinnlich komponierte Inszenierung geschaffen: Die Schauspieler singen und summen deutsche und russische Schlaflieder, sie geben rhythmische Laute statt Sprache von sich, machen märchenhafte Schattenspiele, lassen mit Taschenlampen Lichter auf der Bettdecke tanzen und imitieren auf Kommando Tiere. Die Zeit vor dem Einschlafen formt Michaelis zum Traumbild, zum Zwischenreich, wo man geborgen in der Familienwiege liegt. Etwas zu heil, um wahr zu sein, wirkt dieses recht konservative Familienbild dann aber doch. Michaelis ist sich dessen durchaus bewusst. Schon vor meiner Reise nach Saratow fragte sie sich und mich: „Was macht das wohl mit einem Kind, das nicht so ein stabiles, harmonisches Zuhause hat? Wirkt das trotzdem beruhigend? Oder bedrückend? Das würde ich gern herausfinden.“

NachtschattenSüße Familienträume

Die Liebe zu dieser Produktion teilt sie nicht nur mit den Schauspielern, sie macht sie sogar an ihnen fest: „Ich habe eine Haltung wie bei diesen Schauspielern immer gesucht: Sie sind Diener der Geschichte; sie stehen hinter ihr zurück.“ Und: „Sie sind sehr temperamentvoll, das hat die Inszenierung stark geprägt. Ich habe mit ihnen viel offener gearbeitet, als ich das sonst tue – das hat meine Arbeit verändert.“ So stürmisch ging es mitunter zu, dass die Regisseurin die Schauspieler bei der anschließenden Kissenschlacht mit den Kindern bremsen musste. Und auch beim Imitieren der Tiere wurde etwas zurück gerudert: „Selbst ich kriege Angst, wenn sie einen Wolf nachmachen“, erzählt mir die Dramaturgin Dagmar Domrös. Halbe Sachen gibt es bei diesem Ensemble eben nicht.

Bei der Kissenschlacht mit den Kindern musste Ania Michaelis die stürmischen Schauspieler durchaus mal bremsen...

Bei der Kissenschlacht musste Ania Michaelis die stürmischen Schauspieler durchaus mal bremsen...

Die Regisseurin hat das alles schwer beeindruckt. „Ich lerne jetzt Russisch. Das soll nicht meine letzte Arbeit in diesem Land gewesen sein.“ Und die Schauspieler? Sie senden einen Herzensgruß nach Dresden, indem sie mir „Wandrers Nachtlied“ in der Fassung von Friedrich Kuhlau vorsingen – Michaelis nahm es nach einiger Überlegung aus der Inszenierung, um nicht Erinnerungen an Naturverehrung in Kombination mit Faschismus zu wecken. „Uns hat das Lied aber sehr gefallen“, sagt Olga Lisenko, die Tochter in der Produktion, und fängt mit ihrem Kollegen Alexey Krivega spontan an zu singen:

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Im Herbst, darauf fiebern sie schon hin, reisen die vier Schauspieler nach Dresden und zeigen das Stück in russischer Besetzung. Bis dahin wird Michaelis die Inszenierung noch einmal mit deutschen Schauspielern einstudiert haben. Die verschiedenen Temperamente, die Arbeitsweisen der Nationalitäten kann ich dann an einem Tag direkt miteinander vergleichen (29. September). Ich bin gespannt.

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