Kurz vor der Premiere kam die Nachricht von der Ermordung von Juliano Mer-Khamis. Und man denkt, es müsste eigentlich viel mehr Worte für “Grenze”, “Grenzen”, “Grenzgänger” und so weiter geben. Unsere ganze Welt basiert auf der Tatsache, dass Dinge voneinander unterschieden werden, und doch spricht man bei allen Versuchen, sie wieder zu verbinden, stereotyp davon, dass “Grenzen überschritten werden” – vom Kind, das sich drei Gummibärchen nimmt, obwohl nur eines erlaubt ist, bis zum Theatermacher, dessen Vorstellung von Freiheit sich keinem politischen Lager zuschlagen lässt. Stephanie Doetzer schreibt in ihrem Nachruf auf den Leiter des Freedom Theatre Jenin auf qantara.de:

“Mer-Khamis wurde so sehr mitten in den Nahostkonflikt hineingeboren wie kaum ein zweiter: Sohn einer israelischen Jüdin und eines palästinensischen Christen, der Vater Kommunist, die Mutter Friedensaktivistin. Beide landen für ihr politisches Engagement zeitweise im Gefängnis, ziehen mit dem Sohn nach Russland und in die damalige DDR. ‘In Moskau war ich ein dreckiger Jude, in Israel ein dreckiger Araber’ – so lautet Mer-Khamis’ lakonische Zusammenfassung seiner Kindheitserfahrung.” Juliano Mer-Khamis wurde am Montag “mit mehreren Schüssen in Kopf und Herz (…) regelrecht hingerichtet”, berichtet Hans-Christian Rößler auf faz.net.

Neue Worte finden, die Geschichten transportieren

Vielleicht sollte man sich mit den erschütterndsten Grenz-Fällen der Menschheit fortschreitend alphabetisieren und käme so von der Bausteinsprache zu einer, die Geschichten transportiert. Grenzüberschreitende künstlerische Arbeit im Nahen Osten wäre fortan eine Mer-Khamisierung, und Kindern, die fragten, was das bedeutet, würde man von seiner Theaterarbeit im Flüchtlingslager in Jenin erzählen. Wo ist Jenin? würden sie dann fragen, und: Warum gab es dort Lager?

Und welche Worte bräuchte man, um die Grenzen, in denen es in Aisha Khans Stück Borderlines – No Man’s Land geht, genauer zu benennen? Die englischsprachige Abschlussproduktion der Theaterpartnerschaft zwischen dem Berliner Theater an der Parkaue und dem West Yorkshire Playhouse im englischen Leeds hatte am Mittwoch in Berlin Premiere. Eine paritätisch bilateral besetzte Arbeit: Die Autorin von englischer, der Regisseur, Lajos Talamonti, von deutscher Seite, zwei englische Darsteller: Amy Mc Allister und Paul Holowaty und zwei deutsche: Danielle Schneider und Stefan Faupel.

Alt und Jung, Kleinbürgertum und Prekariat …

“No Man’s Land” ist ein kompakt geschnürtes Sozial-Stück: Viktor ist ein Rentner mit deutschem Akzent – vor 50 Jahren hat er es aus Ostberlin über die Mauer erst in die Welt und dann nach Leeds geschafft. Kitten ist ein straffällig gewordener Jugendlicher, der in Viktors Garten Sozialstunden ableisten muss. Die Sozialarbeiterin Carole kommt regelmäßig vorbei, um Kitten zu kontrollieren und zu versichern, dass sie nur sein Bestes will. Und die 15-jährige Houdini ist von zuhause ausgerissen und versteckt sich in Viktors Schuppen, wo sie zunächst nur von Kitten gesehen wird.

Stefan Faupel als Viktor, Paul Holowaty als Kitten. Bühne: Angelika Wedde.

Die Grenzen, die hier aufgezeigt und gelegentlich überschritten werden, sind die zwischen Alt und Jung, Kleinbürgertum und Prekariat, Junge und Mädchen, Ausländer und Einheimischem. Das Konfliktpotential ergibt sich aus der Konstellation der Figuren und ihren Versuchen der Kontaktaufnahme oder -verweigerung selbst.  Nur Viktors Mauersprung in den 60er Jahren verweist auf etwas anderes. Aber dieser wird in der Probenfassung des Stückes nur kurz erwähnt und könnte auch durch ein ausgefallenes Hobby ersetzt werden, das das Interesse des jungen Kitten erregt und über das er mit dem Alten ins Gespräch kommt.

Paul Holowaty

Durchaus anders in der Inszenierung, und man ahnt, was gemeint ist, wenn Alex Chisholm, die künstlerische Leiterin des Partnerschaft von englischer Seite in dem Magazin, das zum Abschluss des Projekts erschienen ist, schreibt: “Beim Thema Grenzen hatten wir offensichtlich unsere eigenen Grenzen und Begrenzungen übersehen. (…) Obwohl beide Seiten das Gefühl hatten, bereits großzügige Zugeständnisse gemacht zu haben, waren sie auch der Meinung, sich zu weit von ihren eigenen Visionen entfernen zu müssen.”

Endlich Nabelschau, endlich mit beiden Füßen ins Trauma gesprungen!

An einer der Stellen, die offenbar durch Probenimprovisationen entstanden sind, fragt Kitten Viktor wo er herkäme, er hätte ja einen leichten Akzent. Da sagt Stefan Faupel, der Darsteller des Viktor, er käme aus Deutschland und zwar aus Ostberlin, der Stadt mit der Mauer, und hebt zu einer gestisch wie verbal breit ausgemalten Beschreibung des Mauerstreifens mit all seinen Tücken an, deren komische Manie sich vom bisher dominierenden artigen Zusammenspiel deutlich abhebt. Endlich Nabelschau und Rampenspiel, endlich mit beiden Füßen ins Trauma gesprungen!

Immer wieder fällt Faupel in dieser Szene ins Deutsche, weil man Worte wie “Kraftfahrzeugsperrgräben” oder “Hundelaufanlagen” natürlich nicht auf Englisch parat hat, er ist nicht zu stoppen und müsste, so kennt man das im deutschen Staatstheater, ausgebremst werden, indem der Kollege etwas anderes, eigenes aufbringt, das er mit Verve in die Figur einspeist.

Aber Paul Holowaty macht das nicht, kann es vielleicht schon aus Rollengründen nicht, er spielt ja einen 17-Jährigen, der einem 71-Jährigen zuhört, und geht jedenfalls einfach staunend und beeindruckt nickend hinterher. Und diese Höflichkeit lässt Faupels kraftvoll enthemmtes Spiel dann plötzlich doch irgendwie auch überzogen und fast aggressiv erscheinen.

Amy Mc Allister als das Mädchen Houdini, die sich in Viktors Schuppen versteckt, Stefan Faupel. Alle Fotos: Christian Brachwitz

Der eigentliche Dialog dieser Szene ist ein ästhetischer, und er, so kommt es einem vor, markiert das wirkliche “No Man’s Land” dieser Kooperation. Deutsche Staatstheaterexaltation und englische Zielgruppenintegrität treffen hier aufeinander und wollen sich eigentlich eher theatersportlich messen oder ausdiskutiert werden, statt auf einer Bühne zu harmonieren als ob nichts wäre.

Denn eine Synthese kann ja keineswegs immer das Ziel sein. Es gibt definitiv Grenzen, die man gerne wahren möchte, um sich nicht aufzulösen, wie auch “Philipp, 18″ im “Borderlines”-Magazin schreibt: “Wenn wir keine Grenzen hätten oder ich selbst jetzt keine Grenzen hätte, dann könnte ich gleich tot umfallen, dann gibt es ja für mich mehr oder weniger keinen Sinn zu leben.” Hier meint Grenze ungefähr “Identität” und der Punkt, an dem sie aufhört, erscheint einem als Ende des Möglichen, zumindest des Wünschenswerten. Solche Grenzen kann man nicht einfach übertreten. Sie wachsen von selbst ganz langsam von einem weg. Manchmal durch Erfahrung, manchmal einfach so.

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