Eine bulgarisch-deutsche Koproduktion im Theater Osnabrück bringt die Kindheit von Elias Canetti auf die Bühne

Ein Probenbesuch

Rustschuk in Bulgarien, Manchester, Zürich, Wien – das sind die Orte, an denen der Schriftsteller Elias Canetti seine Jugend verbracht hat. Der Literaturnobelpreisträger hat die ersten 15 Jahre seines Lebens im ersten Band seiner Autobiographie beschrieben. “Die gerettete Zunge” heißt das Buch. Das Theater Osnabrück bringt es nun auf die Bühne, als Koproduktion mit dem Theater Russe. So heißt die Stadt Rustschuk, die fünftgrößte in Bulgarien, heute. Der aus Bulgarien stammende und in Berlin lebende Regisseur Ivan Stanev inszeniert mit einem gemischten Ensemble aus beiden Ländern. Freitag ist Premiere.

Ein kleines Kind  beobachtet sein Kindermädchen und ihren Liebhaber. Die beiden fühlen sich ertappt. Sie droht dem Jungen, wenn er etwas verrate, dann würde sie ihm die Zunge rausschneiden. Elias Canetti schweigt, jahrelang. Viele Jahrzehnte später nennt er den ersten Teil seiner Autobiographie “Die gerettete Zunge”.

Die Zunge spielt mit. Sie ist ein überdimensionales Ding, das sich langsam bewegt, züngelnd. Fast wirkt es als säße zusammengekauert jemand unter Stoff, ein aufopferungsvoller Tänzer vielleicht. Dann drückt die Regieassistentin auf einen Knopf, und die Zunge steht still. Sie ist eine Maschine. Eine faszinierende, eklige Maschine, die auch ein seltsames Wesen aus der Tiefsee sein könnte.

Die Bühne im kleinen Emma-Theater, der Studiospielstätte des Theaters Osnabrück, steht unter Wasser. Bei den Proben tragen die Schauspieler Neoprenanzüge, wie Taucher. Am Beginn der Aufführung werden Fotos auf das Wasser projiziert. Es sind Postkarten aus der Stadt Rustschuk, die heute Russe heißt, Bilder vom Anfang des 20. Jahrhunderts. “Da haben wir richtig dran gearbeitet”, sagt Regisseur Ivan Stanev, “dass diese Postkarten auf einmal sozusagen in 3 D aus den Tiefen auftauchen und Bestandteil der Inszenierung werden.”

Rutschuk liegt an der Donau, die Schifffahrt spielte eine große Rolle für die wirtschaftliche Kraft der Stadt.  Doch  Ivan Stanev hat noch einen Grund, warum das Wasser so eine große Rolle spielt.  Für ihn ist Rustschuk vor hundert Jahren ähnlich weit weg wie Atlantis, die legendenumwobene  Stadt im Meer. “Es ist eine untergegangene Welt, die unter dem Meeresspiegel weiter existiert, in Erinnerungsstücken.”

Elias Canetti wurde 1905 in Rustschuk geboren. Seine Familie waren wohlhabende sephardische Juden, die aus Spanien eingewandert waren. Einen Migrationshintergrund hatte in seinem Umfeld fast jeder. “Das war so ein Sprachwirrwarr drum rum, richtig Babylon.” Ivan Stanev hat sichtbar Freude daran, sich diese orientalisch wirkende Welt vorzustellen. “Und da waren auch diese sephardischen Juden, die im 15. Jahrhundert aus Spanien über Thessaloniki nach Bulgarien kamen. Die sprachen auch ein ganz merkwürdiges, altertümliches Spanisch, Ladino heißt es. All das fand ich interessant als Grundlage für eine Inszenierung, die über den Text hinaus so eine merkwürdige emotionale Archäologie betreibt.”

Evgeniya Asenova Yavasheva arbeitet seit sechs Jahren am Theater von Russe. Sie kennt das Haus, in dem Elias Canetti aufgewachsen ist. Es steht noch.  “Außen”, sagt die Schauspielerin, “sieht das Haus noch aus wie auf den alten Fotos. Doch drinnen ist es leer, nur die Treppen sind übrig geblieben.” Heute finden dort manchmal Konzerte statt. In der Osnabrücker Aufführung spielen die bulgarischen Schauspieler kleine Rollen, Küchenpersonal und Zigeuner. Text haben sie nicht. Weil ihre Sprache im Haus der Canettis nicht vorkam. “Da sprach man Ladino, sprach Griechisch, sprach alle möglichen Sprachen,” erläutert der zweisprachig aufgewachsene Ivan Stanev, “Bulgarisch aber eben nicht. Die Bulgaren waren die Diener.”

Körperlich sind die Schauspieler aus Russe sehr präsent. Einmal stemmen zwei von ihnen eine deutsche Kollegin in die Luft und tragen sie über das Wasser. Die junge Frau strahlt, Zigeuner sind gekommen.  “Der ganze Aufzug hatte etwas unheimlich Dichtes.” Canettis Worte strömen aus ihr, sie ist eine von mehreren Verkörperungen des Autors. “So viele Menschen, die sich bei ihrer Fortbewegung dicht zusammenhielten, bekam ich sonst nie zu Gesicht. Und es war auch in dieser sehr farbigen Stadt das Farbigste.” Es sind nur noch wenige Tage bis zur Premiere, aber Stanev probiert noch viel aus. Die Schauspielerin probiert verschiedene Haltungen aus, spricht mal über Musik, mal ohne. Dann soll sie mit einem “inneren Lachen” spielen. Sie kriegt das hin, der Text leuchtet noch mehr.

Elias Canetti verließ Rustschuk, noch bevor er zur Schule ging. Als die Familie entscheidet, ins englische Manchester zu ziehen, stapft plötzlich der Großvater am Stock durch das Wasser und stößt einen minutenlangen Fluch aus. Der Fluch steht nicht im Buch. Schauspieler Olaf Weissenberg erzählt, dass es gar nicht so einfach war, einen richtig heftigen Text von alttestamentarischer Wucht zu entdecken:  “Ivan Stanev hat dann einen aus dem Talmud gefunden. Ich schätze, das sind zwei oder drei Flüche, die zusammengenommen sind, damit eine große Suada entsteht. Manchmal beim Sprechen läuft es mir eiskalt den Rücken runter.”

Poetisch verdichtete Texte und sinnliches Körpertheater kommen zusammen. Dass in “Rustschuk – die gerettete Zunge” bulgarische und deutsche Schauspieler ein Team bilden, findet Ivan Stanev zwar interessant. Aber nicht mehr ungewöhnlich. “Die Theater müssen sich öffnen in Europa”, sagt er. “Anders geht’s nicht mehr.”

Premiere am 28. Januar

Weitere Vorstellungen: 1., 3., 4. Februar, 11., 13., 16. März, 6., 8. April.

Jeweils um 19.30 Uhr im Emma-Theater.

RUSTSCHUK auf Gastspielreise
10.4.2011 Theater an der Parkaue, Berlin
11.4.2011 Theater an der Parkaue, Berlin
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29.4.2011 Drama Theater Russe
01.05.2011 Doppelvorstellung in Sfumato Theatre Sofia

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