Seit Ende November laufen die Proben in Turin zur italienischen Uraufführung des Fatzer-Fragments von Brecht. Es sind sehr intensive Tage – Tage, wo das sich-am-Text-Erproben über die Probezeit hinaus geht. Das lässt sich wahrscheinlich immer mehr oder weniger erfahren, wenn man an einer Inszenierung arbeitet, wie bei jeder kollektiven Arbeit, wo der Einsatz vieler Intelligenzen und Wahrnehmungsweisen tatsächlich erforderlich wird. Sinnvoller Zufall: Wir machen Theater in einer stillgelegten Fabrik. Nach einer Woche im Teatro Stabile im Turiner Zentrum, proben wir seit Anfang Dezember in der Fonderie-Limone in Moncalieri, in der südöstlichen industriellen Peripherie von Turin. Diese Außenstelle, die das Teatro Stabile aus einer ehemaligen, vor dem ersten Krieg stammenden Gießerei bekommen hat, ist mit ihren sanierten Fabrikanlagen, Hochöfen und Schlafkasernen unser Mülheim geworden: Das Loch, aus dem Fatzer aus dem ersten Weltkrieg, der unsere Zeiten eingeleitet hat, in die Gegenwart herauszukriechen versucht.
Die ersten Tage sind die der kollektiven Begegnung mit den Worten gewesen. Es war eher ein Zusammenstoß, ein Eisenbahnunglück, zu dem man sich verabredet hatte. Trotz seiner erarbeiteten Einfachheit ist es einer der schwierigsten Texte, wie die Schauspieler und Mitarbeiter gestehen müssen, mit denen sie sich jemals auseinandergesetzt haben. Natürlich kommt alles Wissen und Verstehen, das man beim ersten individuellen Lesen und Überlegen gesammelt zu haben schien, wie üblich durcheinander. Mit einem aber diesmal vielleicht merkwürdigen Gefühl: als gehe man durch das Trümmerfeld und die Wüste des eigenen lückenhaften Wissens und unterbrochenen Verstehens herum, nur der Text bleibt in seiner fragmentarischen Perfektion erhalten, bei jedem Rundgang, bei jeder Invasion weniger fremd aber gleich fern. Wir merken bald, es geht nicht so sehr darum, den Text zu „verstehen“, sondern darum die Orte unserer „Wirklichkeit“ zu finden, die der Text am meisten verklärt. Wo versteht uns Fatzer besser, als wir uns selbst verstehen. Wir haben den erschreckenden Eindruck, wie viel und wie fachkundig man heute wissen und verstehen müsste, um auf das Leck in den fachkundigen Darstellungen der „Wirklichkeit“ auch nur hinweisen zu können (selbst wenn es nur um Theater geht).
Eines Abends beim Autofahren von Turin nach unserem „Mülheim“ zurück, erzählt der Rundfunk von der Katastrophe in den genauesten, selbstreferenziellsten, technisch-ökonomischen Wörtern und über die globalisierte Protestbewegung in den begeisterndsten und selbstgenügsamsten Slogans. Wir sitzen von langen Proben und Versuchen ermüdet eng, hungrig und erkältet im Auto und haben keine Lust, keine Energie mehr, auch nur den Kanal zu wechseln. Nur Werner, einer unserer Fatzer-Masken, der in seinem deutsch-muttersprachlichen und überlegenden Ton sich fremd genug anhört, als ob er uns auch aus einer anderen Zeit redete, bemerkt leise vor sich hin: „tutti parlano a cazzo di tutto“. „Man schwatzt überall Scheiße über alles“.

(Milena Massalongo)

Milena Massalongo ist als Dramaturgin für das Teatro Stabile di Torino, dem Partnertheater der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin, in der Inszenierung “Fatzer Fragment / Getting lost faster” (Regie: Fabrizio Arcuri) tätig. Das Projekt wird am 20. Januar 2012 in der Volksbühne erstaufgeführt. Von Milena Massalongo stammt außerdem die erste italienische Übersetzung von Brecht/Müller “Der Untergang des Egoisten Fatzer”.

www.volksbuehne-berlin.de

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