Hallo, ich bin der neue Pfadfinder, vulgo Wanderlust-Blogger, und beginne meine guten Taten mit „The Day Before the Last Day“. Das ist eine Koproduktion zwischen der Berliner Schaubühne und dem Habima National Theatre in Tel Aviv, Premiere ist am 1. September in Berlin. Es geht um die Rolle, die orthodoxe Religionsauffassungen im Nahen Osten spielen und in Zukunft noch viel stärker spielen werden. Wenn der Text und mein erster Leseeindruck nicht täuschen, wird es eine inhaltlich unversöhnliche, spielerisch aber hoffnungsvolle und ästhetisch offene, überdrehte, lustige Inszenierung werden. Die Welt ist schlecht, aber so lange wir noch miteinander darüber reden können, rettet uns der harte Humor. Doch dazu später. Ich fange ja gerade erst an.

Weil die israelische Regisseurin Yael Ronen und ihre jüdischen, arabischen und deutschen Schauspieler den Prozess ihrer Arbeit im Produkt meistens sichtbar, ja kunstfähig machen wollen, spiegle ich hier versuchsweise Ronens Arbeitsweise in meiner eigenen: Auch der Prozess der Annäherung soll kritikfähig werden. Nicht weil ich denke, dass eine Beschreibung, eine Kritik oder irgendein journalistisches Stück die Form dem Beschriebenen abschauen muss. Sondern weil wir, die Pfadfinder, experimentieren sollen. Ich möchte keine digitale Kopie von Printjournalismus simulieren, das entspräche weder dem Wesen dieses Blogs noch dem Umstand, dass sowohl die Künstler wie die Pfadfinder von derselben Instanz getragen werden, der Kulturstiftung des Bundes nämlich. Indes: Die Thematisierung der Pfadfinderei hat für den Moment auch mit den Hürden zu tun, die jedes Experiment aufstellt, das den Namen verdient. Auch dieses.

Pfadfinder sind nette Menschen, haben reine Herzen und vielleicht etwas Mundgeruch. Zwei dieser drei Voraussetzungen kann ein Theaterkritiker nur mühsam erfüllen. Beantwortung der Frage: Was ist ein Theaterkritiker? Kant hat die Frage in dieser Form für die Aufklärung gestellt, Lyotard für die Postmoderne. Doch welche Aufgaben ein Theaterkritiker erfüllt, war noch nie so unklar wie heute. Die Kritik hat kein Kernprogramm mehr wie die Aufklärung, von der sie abstammt. Und die Kritik verfügt auch nicht mehr über den Furor der Postmoderne, von der einige Kritiker gelernt haben, die eigene Position skeptisch zu sehen sowie das Urteil auch einmal zu Gunsten einer assoziativeren Schreibweise aufzuschieben. Kritik als Antwort, nicht primär als Platzverweis: bleibt ein unvollendetes Projekt.

Was hat das mit der Arbeit Yael Ronens zu tun? Ich dachte, mich in drei Schritten der Premiere von „The Day Before The Last Day“ zu nähern und hier davon zu berichten. Ein erster Besuch auf der Probebühne, zwei Wochen vor der Premiere; ein Eindruck von „Die Dritte Generation“, der interkulturellen Erfolgsproduktion von Yael Ronen, die seit zwei Jahren tourt und ebenso jüdische, arabische und deutsche Schauspieler miteinander kollidieren lässt (dieser ältere Abend hat also viel mit dem neuen zu tun und bietet sich als Vergleich an); schließlich ein zweiter Probenbesuch, eine Woche vor der Premiere. Kein Kritiker hat solche luxuriösen Zeitfenster zur Vorbereitung. Man kann hier Einblicke bieten – mal kurze, mal längere -, die in der Tageszeitung niemand leisten kann. Und dort vielleicht auch niemand lesen will.

Traumhaft, ein neues Leben als Post-Kritiker. Doch von der ersten Probe hat man mich kurzfristig wieder ausgeladen, es sei doch zu früh für einen wie mich. Kritiker, das ist wie der Blutfleck der Lady Macbeth, der nicht verschwinden will. Das Team hat sich von meinem Pfadfinderkostüm nicht täuschen lassen und das große K auf meinem Rücken rechtzeitig erkannt.

Postscript: Ich habe das Stück gelesen und gestaunt. Die Fassung von „The Day Before The Last Day“, die man mir freimütig geschickt hat, ist in der Tat sehr unfertig. Ich glaube nicht, dass ein Kritiker diesen Text in dieser Form erhalten hätte. Ein erster Punkt für den Post-Kritiker! Trotz Sprachengewirr und damit verbundener Post-Rechtschreibung hat die Lektüre übrigens Spaß gemacht. Man erhält gleich eine Vorstellung für die Bühne. Weil es weniger ein Stück ist als eine Probenfassung, die, wenn ich nicht irre, zum großen Teil aus erst improvisiertem, dann festgehaltenem und schließlich umgeschriebenem Szenenmaterial besteht. In Deutschland sagt man dazu noch immer: Projekt. Mehr dazu in einer Woche. Ich werde nett sein, reinen Herzens auf den Endproben erscheinen und Minztabletten lutschen.

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