Georg Heym und Gerhart Hauptmann hatten es vor gut hundert Jahren vergleichsweise leicht, von Berlin nach Hirschberg zu kommen: Einmal in den Zug gestiegen, konnten sie die 303 Kilometer bis zum Erholungsort in Schlesien durchfahren, so wie viele Wochenendausflügler es ihnen gleich taten. Beide Schriftsteller wurden hier geboren, Heym in Hirschberg, Hauptmann im Nachbarort Bad Salzbrunn, reisten aber bekanntlich häufig in die Metropole oder lebten dort – Georg Heym kam mit 24 Jahren dann beim Eislaufen in Berlin ums Leben. Schon 1866, da war Heym noch gar nicht geboren, wurde die Bahnstrecke zwischen Hirschberg, Görlitz und Berlin eingeweiht – es muss eine Fahrt geradewegs durch die sanfte schlesische Hügellandschaft und Flussebene gewesen sein, direkt auf das Riesengebirge zu, bis mitten hinein in den Kurort am Berg mit seinen heißen Quellen.

Heute ist das Gebiet durch eine Landesgrenze geteilt: Gleich hinter Görlitz, nur von der Neiße getrennt, beginnt Polen. Hirschberg heißt seit 1945 Jelenia Góra (die wörtliche Übersetzung des Ortsnamens) und ist – von wegen Fortschritt – jetzt deutlich schwieriger erreichbar: Von Berlin mit der Bahn nach Cottbus, weiter mit der ODEG (Ostdeutsche Eisenbahn) nach Görlitz, dort mit dem Taxi über die Grenze nach Zgorzelec, schließlich mit dem Bus nach Jelenia Góra. Für mich wird es ab Görlitz deutlich bequemer: Die Projektkoordinatorin der „Sagenhaften Spurensuche“ nimmt mich, herrlich!, im Dienstwagen mit.

An der Landschaft hat sich vermutlich am wenigsten verändert. Hinter Görlitz liegen rechts und links nur einzelne Häuser, mal eine kleine Ortschaft. Vor uns tut sich das Riesengebirge auf, grade so, als fahre man auf die Alpen zu. Der Himmel ist dabei so blau, dass die Schneegipfel spitz in ihn stechen.

Die Görlitzer Premiere von „Hagazussa“ („Hexe“) liegt nur wenige Tage zurück, nun folgt die erste Vorstellung am kooperierenden Haus in Jelenia Góra, dem Animationstheater „Zdrojowy Teatr Animacji“. In der Produktion kommen die Tänzer des Görlitzer Gerhart-Hauptmann-Theaters mit den polnischen Puppenspielern zusammen – das ist sowohl kulturell und sprachlich als auch ästhetisch eine Herausforderung (mehr dazu im letzten Blogeintrag).  „Ich will das gern weiterverfolgen“, erzählt die Regisseurin und Choreografin des Projekts Steffi Sembdner, ebenfalls Mitfahrerin. „Ich finde es ästhetisch unglaublich spannend zu sehen, was sich entwickelt, wenn diese zwei wortlosen Künste aufeinander treffen.“ Mit der deutschen Premiere ist sie zufrieden, die polnische Erstaufführung  verlangt noch mal einige Änderungen: Das Görlitzer Apollo-Theater hat nur 100 Sitzplätze und besitzt ein kleines Fenster in einen Raum über der Bühne, das eine wichtige Rolle spielt. Die Bühne im polnischen Kurtheater, hier ist das Teatr Animacji untergebracht, ist zwar auch nicht riesig, aber doch wesentlich größer und fensterlos.

Am Theater angekommen stelle ich fest: „im Kurtheater untergebracht“ ist ein unpassender Begriff, „residiert“ trifft es wesentlich besser. Mitten im weitläufigen Kurpark von Bad Warmbrunn (heute: Cieplice) liegt es, ein klassizistischer Bau des Schinkelschülers Albert Tollberg. Die reiche Familie Schaffgotsch, die nebenan im Schloss wohnte, ließ sowohl den Park anlegen, als auch 1836 das Theater errichten und die nebenstehende Galerie, sowie den gegenüberliegenden Pavillon inklusive Billardraum, Tanzsalon und Konzertsaal bauen. Die Kurgäste durften durch die breiten Alleen des Parks spazieren und am Abend unter anderem die Schaffgotschs auf der Theaterbühne beklatschen. Heute ist Cieplice ein Stadtteil Jelenia Góras und Attraktion für Touristen, die neben Wanderungen durchs Riesengebirge die frühere Kulturblüte nacherleben möchten. Die Ränder des Parks säumen nun Hotels und ein Touristeninfocenter, das Städtchen wirkt sehr saniert, sehr aufgeräumt – und die Einwohner, die ich mit Turnschuhen, Handys und Kapuzenpullovern vereinzelt auf der Straße sehe, bilden einen krassen Gegensatz zu den herrschaftlichen Gebäuden ihrer wohlhabenden Vorgänger. Ich bin gespannt, welches Publikum sich am nächsten Abend bei der Premiere zeigen wird.

Der Intendant des Teatr Animacji, Bogdan Nauka, hat das Datum geschickt gewählt: Die Erstaufführung des deutsch-polnischen Projekts ist Teil der Feierlichkeiten sowohl des 35-jährigen Bestehens des Animationstheaters, als auch der Einweihung des Gebäudes nach einer Renovierung. Anderthalb Tage hat Steffi Sembdner und ihre internationale Crew Zeit, die Stückentwicklung sinnvoll auf die große Bühne zu verpflanzen – die einzigen drei polnischen Sätze der Inszenierung, die in Görlitz nur im Programmheft ins Deutsche übersetzt wurden, sind hier nun allgemein verständlich. „Konsequenter wäre gewesen, gar keine Sprache, höchstens Laute zu verwenden“, räumt Sembdner ein. Ob die einstündige Performance hier in Jelenia Góra emotionaler, möglicherweise stürmischer aufgenommen wird, wie Sembdner vermutet? Morgen kann ich berichten…

Tags: , , , , , , ,

1 Comment

  1. Werner | 16.07.2012 18:26

    Warum von Berlin nach Jelenia Góra auf dem kompliziertesten Weg fahren, den es gibt? Verstehe ich absolut nicht. Ich steige kurz vor 10 Uhr im Hbf Berlin ein, bezahle dafür 29 Euro Sparpreis, steige dann um 3 Uhr in Breslau in den Bus und bin zwei Stunden später für 30 zł in Jelonka. Wenn ich Lust habe, unbedingt die Nacht im Bus zu verbringen, kann ich auch ca. um Mitternacht am Funkturm einsteigen und bin für rund 65 Euro um halb sieben am Ziel.

leave a comment

You must be logged in to post a comment.