Mit reduzierten Mitteln inszeniert Andrea Gronemeyer mit einem indisch-deutschen Ensemble eine packende Geschichte

Fast täglich hört man diese Meldungen: Wieder ist ein Flüchtlingsboot gekentert, vor Lampedusa zum Beispiel. Einige wenige konnten sich retten, viele sind ertrunken, die genaue Zahl kennt niemand. Im Mannheimer Schnawwl bekommen zwei dieser Flüchtlinge Gesichter und Geschichten. Es sind Menschen wie Krysia und Naz, die sich unter Lebensgefahr auf dem Weg in die scheinbar bessere Welt machen. Mit dem Wanderlust-Partner, dem Ranga Shankara Theater aus dem indischen Bangalore, entwickelt Regisseurin Andrea Gronemeyer grandioses Erzähltheater: “Der Junge mit dem Koffer”.

Zwei Schauspieler, ein Mensch: B. V. Shrunga als junger Naz und David Benito Garcia als Erzähler.

Einige Podeste stehen auf der Bühne, dahinter die Darsteller. Die ersten Sätze sprechen sie im Dunkeln, weit weg vom Publikum. Dann kommen sie langsam vor an die Rampe, die indische Sängerin M. D. Pallavi singt mit strahlender Geschmeidigkeit ein emotionales Lied. Der Komponist Coordt Linke hat mit dem Gitarristen Konarak Reddy aus Bangalore die Musik geschrieben. Es ist ein dichter Soundtrack aus Songs, Instrumentalstücken und Geräuschen. Die Schauspieler, die gerade vorne nichts zu tun haben, sitzen im Hintergrund und werden zum Teil der Band, unterstützen die Kollegen mit dem Pfeifen des Windes, dem Schlagen der Wellen, atmosphärischen Grundierungen.

Durchschlagen ohne Geld

Mike Kenny erzählt in  „Der Junge mit dem Koffer“ eine Flüchtlingsgeschichte, die überall passieren könnte. Das Glück einer Familie wird zerstört, Soldaten kommen, die Eltern fliehen, das Geld reicht nicht, um alle aus dem Land zu bringen. Sie kratzen zusammen, was sie haben und schicken ihren Sohn Naz fort, nach England, wo schon seine Schwester wohnt, von der manchmal eine optimistische Postkarte kommt. Der Junge kriegt erst mit, dass seine Eltern nicht mitkommen, als er noch im Bus sitzt. Er muss sich allein durchschlagen, ohne Geld. Soldaten rauben die Flüchtlinge aus, Bergführer und Schlepper betrügen sie, in einer Textilfabrik lassen sie sich zwei Jahre lang ausbeuten, um Geld zu sparen. Naz lernt auf dieser Odyssee ein Mädchen kennen, Krysia, die erst so tut, als sei  sie was Besseres.  Sie halten sich aneinander fest, kämpfen gemeinsam, bis beide bei der Überfahrt ins Meer fallen und sich aus den Augen verlieren. Und immer hat Naz eine Geschichte im Kopf, die Abenteuer von Sindbad, dem Seefahrer.

Perfekter Erzählfluss

Im Gegensatz zur Textvorlage ist die Rolle des Naz in der Aufführung geteilt. Der Inder B. V. Shrunga spielt auf englisch den Jungen, David Benito Garcia, der ihm überraschend ähnlich sieht, ist der Erzähler. Die Aufteilung klappt grandios und steht für das enge, intensive Zusammenspiel des Ensembles aus Mannheim und Bangalore. Mit ganz wenigen Mitteln wandelt sich die Szene, die Podeste werden umgekippt, Arbeitsabläufe in einer Fabrik pantomimisch angedeutet, Bilder entstehen durch klare Spielhaltungen. Simone Oswald überzeugt als Krysia mit authentischer Stacheligkeit, hinter der sich Unsicherheit verbirgt, eine Kämpferin. Und Nikolai Jegorow wechselt die Rollen fliegend mit großer Präzision. Die Aufführung entwickelt einen perfekten Erzählfluss, setzt pointiert leichtere Momente, berührt dann wieder zutiefst. Gerade weil sie nicht einmal im Ansatz versucht, naturalistisch zu sein, die Regie vertraut auf die Fantasie der Zuschauer und setzt genau die richtigen Reize, um sie in Gang zu setzen.

Der Finger tippt ans Kinn

Nach der Vorstellung: Das Schnawwl war rappelvoll, die Kinder haben 90 Minuten ohne Pause  zugehört, obwohl die Hälfte der Vorstellung auf Englisch gespielt wurde. Im Juni gibt es Aufführungen in Bangalore, die dann komplett englisch laufen. Wie so oft nach intensiven Aufführungen hat man das Gefühl, dass die Bühne noch dampft, dass die Podeste, die nun von Bühnenarbeitern abgeräumt werden, noch warm sein müssen. M. D. Pallavi und David Benito Garcia erzählen von den Proben. Die indische Sängerin erzählt von der angenehmen Atmosphäre in Mannheim: „Im Theater geht es nicht nur darum, ein Stück auf die Bühne zu bekommen. Es ist ein Prozess, man lernt so viel Neues kennen. In dieser Zusammenarbeit sind wir alle gewachsen.“ David erinnert sich an die ersten vier Wochen Proben in Bangalore. Jeden Morgen um  halb sieben Aufstehen, der Tag beginnt mit Yoga und anderem Körpertraining. „Wir haben zusammen gelebt und gegessen wie in einem Big-Brother-Haus.“ „Und  miteinander gekämpft“, ergänzt M. D. Pallavi und lächelt dabei so charmant, dass man es ihr kaum glaubt. „In Indien“, meint sie, „wird die Aufführung einige Zuschauer überraschen. Diese Art, Geschichten zu erzählen, die direkte Art, das Publikum anzusprechen, wird für sie neu sein.“ Bei den Proben haben die Schauspieler viel über Improvisationen gearbeitet. „Wir haben uns nicht gekannt, und sind ein Team geworden.“ Am Ende tippen die Schauspieler kurz mit einem Finger ans Kinn, eine rätselhafte Geste. Was soll sie bedeuten? „Was glaubst du denn?“ fragt M. D. Pallavi. Hm, weiß nicht, sie wirkt verbindend, wie etwas Gemeinsames. „Es ist eine Geste von der Mutter von Naz, die sie immer macht, wenn sie ihm von Sindbad erzählt, wenn sie Geschichten erzählt“, erklärt David. Eine schöne kleine Geste, die viel erzählt. Sie passt zur Aufführung.

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