Der Leseworkshop „Der fremde Blick“ zeigt, wie junge Theaterautoren aus Dänemark und Deutschland auf ihre Nachbarn schauen

Ingolf hat eine Idee: Er will aus einem ehemaligen Konzentrationslager einen Vergnügungspark machen, Wellnessanlagen in den Todesduschen, daneben ein vegetarisches Restaurant. Wenn das der Führer wüsste… Ingolf hat Geld genug, um das zu realisieren. Aber ist er wirklich ein gewissenloser, zynischer Altnazi? Oder provoziert er nur seinen Sohn, zu dem er nie eine intensive Beziehung hatte? Diese Frage wurde leidenschaftlich diskutiert nach der Lesung des ersten Teils von „Der Klang eines Menschen – eine Zwangsvorstellung“ der dänischen Autorin Laerke Sanderhoff.

Das Staatsschauspiel Dresden und das Königliche Theater Kopenhagen haben ein Autorenprojekt gestartet. 2012 wird es Uraufführungen der bekannten Dramatiker Christian Lollike in Deutschland und Martin Heckmanns in Dänemark geben. Parallel arbeiten vier junge Autoren an Stücken über das jeweils andere Land. Zwei Dänen und zwei Deutsche haben Dresden und Kopenhagen besucht und in einem rappelvollen Programm eine Menge Leute getroffen, Gespräche geführt, wichtige Orte angeschaut. Das waren – wie Martin Heckmanns erzählt – in Dänemark nicht nur Politiker, sondern auch Feministinnen und Eheberater, darunter sehr bekannte Leute. Die Autoren bekamen erst die Köpfe vollgestopft und danach völlige Freiheit. Ob nun Einakter oder abendfüllende Texte, Politdramen, Komödien oder experimentelle Texte dabei heraus kommen, hat niemand fest gelegt. Nun zeigten die vier eine Werkschau mit szenischen Lesungen, erst in Kopenhagen, nun in Dresden, in der dritten Spielstätte des kleinen Hauses, ganz oben unterm Dach.

Eine Stunde Lesen, zwei Stunden Durchstellen – mehr Zeit für Proben hatten die Regieassistenten des Staatsschauspiels nicht zur Verfügung. Dennoch zeigen sie weit mehr als nur Lesungen, sondern kleine Inszenierungen mit Videoeinsatz und musikalischen Elementen. Manchmal wunderte man sich, dass die ausgezeichneten Schauspieler noch Zettel in den Händen hielten, so dicht wirkten manche Szenen. Nassrin el Halawani aus Dänemark machte den Anfang. „No-Go Area“ ist ein Stück über Fremdenfeindlichkeit in Akademikerkreisen. Ein Professsor für Neuropsychologie gibt sich unglaublich tolerant und verweist gern auf die jungen internationalen Wissenschaftler, die bei ihm ihre Forschungen weiter führen. Doch im Alltag gibt es Probleme. Dr. Kiran Pathani aus Indien bekommt einfach keine Freiwilligen, die sich für Tests zu Verfügung stellen. Ihre Versuchsreihe droht zu scheitern. Sie bittet die Sekretärin Gabrielle, ihren Namen unter einen neuen Aufruf zu setzen. Plötzlich strömen die Leute, doch als Gabrielle krank wird und Dr. Pathani die Menschen begrüßt, trifft  sie kalte Abweisung. „No-Go Area“ ist ein vorhersehbares Stück, in bravem Fernsehrealismus verfasst. Nassrin el Halawani schneidet ein paar interessante Themen an: Warum vertraut die junge Inderin niemandem so sehr, dass sie ihre Probleme offen äußert? Und wie viel Rassismus verbirgt sich in aufgeklärten Intellektuellen? Als der Professor sich selbst für einen Gehirntest zur Verfügung stellt, reagiert er ebenso mit  Angst und Ablehnung wie eine einfache Frau zuvor. Eine nette, satirische Nebenszene spiegelt den Stolz des Dresdner Bürgertums auf seine Semperoper. Im Kontrast dazu steht eine Nacht, in der auf den Straßen eine rassistische Demonstration zu toben scheint und sich die Inderin nicht nach draußen traut. Ganz Dresden wird zur „No-Go Area“.

Grotesker Humor

Ob diese Analyse der Akademikerszene wirklich den Tatsachen entspricht, wurde in der Diskussion nach der Lesung in Frage gestellt. Andere Besucher verwiesen hingegen auf Fälle von Gewalt gegen Ausländern und eine immer noch sehr starke fremdenfeindliche Stimmung in der Region. Auch über „Der Klang eines Menschen – eine Zwangsvorstellung“ von Laerke Sanderhoff wurde gestritten. Die Autorin war sich selbst nicht sicher, ob ihr grotesker Humor – der Nazifunpark des alten Ingolf – richtig aufgenommen würde. Ein Besucher kritisierte, dass sie sich mit den Tätern beschäftige und verlangte, die Leidenden in den Mittelpunkt zu stellen. Worauf Intendant Wilfried Schulz dafür plädierte, alle Formen der Beschäftigung mit der Vergangenheit zuzulassen, denn gerade in dem unvorbelasteten fremden Blick liege die Chance auf neue Anregungen. Der Chefdramaturg des Königlichen Nationaltheaters Kopenhagen erinnerte an die umstrittene Rede seines Landsmanns Lars von Trier bei den Filmfestspielen in Cannes. Dänen verbinden mit dem Nationalsozialismus nicht so konkrete Erinnerungen wie die Deutschen. Da gehe es eher um eine Metapher für das Böse, und das stecke in jedem Menschen.

Laerke Sanderhoff, von deren Stück nach eigener Aussage nur das erste Viertel zu hören war, scheint die Nazianspielungen gar nicht so tiefschürfend gemeint zu haben. Ihr Text erinnert an ein Drehbuch der Coen-Brüder. Er ist krude, kraftvoll, absurd und unberechenbar. Der alte Ingolf hat eine junge russische Verlobte. Natürlich denkt jeder, auch sein Sohn, sie wolle ihn abzocken und spekuliere auf sein schnelles Ende. Doch diese Natascha hat überraschende  Seiten, beteuert ihre Liebe, bezeichnet sich als Hellseherin. Als Ingolf seine Pläne mitteilt, reagiert sie dennoch erschreckt und fragt verzagt, ob er wirklich sein ganzes Geld da hinein stecken wolle. Die Figuren schillern. Sobald sie klare Konturen zu bekommen scheinen, verschwimmen sie wieder. Sohn Martin, ein Fotograf, steht durch die erste intensive Begegnung mit dem mal kranken, dann wieder äußerst vitalen Vater vor einem Wendepunkt. Und dann steht auch noch seine Freundin vor der Tür, die das Warten zu Hause nicht ausgehalten hat. Laerke Sanderhoff will den Sohn im weiteren Verlauf des Stückes durch die Hölle schicken, bis er am Schluss genau so wird wie sein Vater. Das könnte ein spannendes, extremes Stück werden.

Politiker aus Plastik

In Kopenhagen haben die Autoren zwei Politiker getroffen. Diese beiden Figuren hat Marianne Salzmann zu einer verschmolzen. Da sitzt Er, ein namenloser Mächtiger, die Videokamera ist auf ihn gerichtet. Er lächelt unaufhörlich, wirkt charmant und offen, will die Fragenstellerin mit unnachgiebiger Freundlichkeit aus dem Konzept bringen. Doch die reagiert schamlos direkt. Er habe so eine perfekte Haut, sagt sie, und fragt, ob sie sein Gesicht mal berühren dürfe, welche Creme er benutze. Der Politiker ist verwirrt, sie schlägt ihn mit seinen eigenen Waffen. Später erzählt Marianne Salzmann, die Realität sei anders gewesen. Die schlagfertigen Sätze seien ihr erst danach eingefallen. Ein Politiker habe wie eine Plastikpuppe gewirkt, fast wie ein Außerirdischer, bis zur Unwirklichkeit aalglatt. Bei der Lesung mit dänischen Schauspielern in Kopenhagen, hat das Publikum heftig gelacht, weil es das Original wieder erkannte.

Auch das Stück „Man will doch einfach mal Hygge“ (das bedeutet ungefähr chillen, gemeinsam entspannen) beschäftigt sich mit Fremdenfeindlichkeit. Die beste Freundin Theas – so heißt die Journalistin, die den Politiker befragt hat – muss das Land verlassen, weil sie keine dänische Staatsbürgerin ist. Die hochschwangere Thea ist erbost, irgendwas stimmt nicht mehr zwischen ihr, ihrem Leben, ihrem Ehemann, ihrem Land, ihrem Körper. Nach der Geburt des Kindes empfindet sie eine seltsame Distanz zu dem Baby. Ihr einziger Wunsch ist es, gemeinsam mit ihrer Freundin abzuhauen. Auch von diesem Stück wurde nur der erste Teil gelesen. Stark wirken die Dialoge, die Charaktere haben viel Potential.

Flüchtlingsfantasie

In ein Flüchtlingslager führt Eugen Martins Stück „Strict but Fair“, das bisher nur als Skizze vorliegt. Der elfjährige Fouad hat Krieg und Verfolgung im Irak erlebt, er spricht manchmal wie ein Erwachsener, in seinem Kopf scheinen die Erlebnisse von Gewalt und die Gegenwart zu verschwimmen. Seine Mutter hat ihm verboten, sich weiter als 50 Meter von ihrer Bleibe zu entfernen. Foauds einziger Gesprächspartner ist ein dänischer Soldat, der für den Kriegseinsatz trainiert. Autor Eugen Martin erzählt, ein Künstler habe ihm von so einem Lager berichtet, in dem nebeneinander Soldaten ausgebildet werden und Flüchtlinge leben. Das sei zwar ein Missverständnis gewesen, das Militär habe zwar nebenan geübt, in Hörweite, aber nicht direkt unter den Arabern. Doch die Aufklärung sei zu spät gekommen, da hat schon was im Kopf des Autoren zu wachsen angefangen. Sein Stück ist das rätselhafteste des Workshops, Realität und Fantasie verschwimmen, schließlich stirbt Fouads Mutter, und der Soldat schmuggelt den Jungen unter seiner Jacke aus dem Lager. Jetzt könnte ein road movie beginnen.

Wann die Stücke fertig sind und die Uraufführungen anstehen, ist noch völlig offen. Doch für das Anliegen des Wanderlustfonds war die Präsentation im Rahmen eines Workshops fast noch Gewinn bringender. Die Einflüsse der Recherchen in den Städten sind  deutlich spürbar und nicht in einem Gesamtkonstrukt aufgegangen.  „Der fremde Blick“ ist noch im Rohzustand und nicht genau fokussiert. Eben das regt zu Diskussionen an. Oft, sagte einer der Teilnehmer, habe man den Eindruck, dass es zwischen Deutschen und Dänen kaum kulturelle Unterschiede gebe. Doch beim genauen Hinsehen gibt es doch einiges, worüber man sich verständigen muss.

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