Das Radu Stanca Nationaltheater im ehemaligen Hermannstadt und das Theater Oberhausen zeigen gemeinsam Lothar Trolles Stück “Die Engel von Sibiu”

Engel von Sibiu © Costin Chesnoiu

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Autor / Sprecher: Stefan Keim © WDR 3, Mosaik, gesendet 23. Februar 2011

Viele hatten mich vor Carpat Air gewarnt. “Flieg doch lieber mit Lufthansa über München.” Aber so schlimm war es gar nicht. Düsseldorf, Timisoara, Sibiu. Einmal umsteigen, alles pünktlich. Man fliegt, wie man vor 20 Jahren geflogen ist. Das Flugzeug sieht aus, als hätte man die Einzelteile zusammengetackert. Zu essen gibt es pappige Brötchen in Plastik. Alles ist sehr eng, besonders das Klo. Keine weiteren Einzelheiten. Aber angekommen. 100 Euro billiger als mit Lufthansa. Und gar nicht so schlecht gesessen.Der Taxifahrer spricht Italienisch. Ich stammele was von Teatro, und er scheint zu wissen, wohin er fahren soll. Als wir  in einem Vorort an einer roten Ampel halten, laufen sofort bettelnde Kinder zwischen den Autos herum. An einem völlig heruntergekommenen Haus hängt das Schild “Fashion Café”. Sibiu ist eine Stadt der zwei sozialen Welten. Die Innenstadt ist herausgeputzt, ein Touristenparadies aus historischen Gebäuden, Museen, Weinkellern, Kaffeehäusern im Wiener Stil. Am Rande der Stadtmauer liegt ein ehemaliges Kino, das Radu Stanca Nationaltheater. Der Pförtner spricht weder Deutsch noch Englisch noch Italienisch. Er schaut mich nur an und fragt: “Anna Neamtu?” Ich nicke. Er lächelt. Geht ja auch so.

Die deutsche Abteilung

Anna Neamtu holt mich ab. Sie leitet die deutsche Abteilung im Radu Stanca Nationaltheater. Außer ihr, der Chefin, gibt es noch eine Assistentin. Und 15 Schauspieler, die jedes Jahr mindestens sechs Produktionen herausbringen. “Im Moment haben wir einen Japaner dabei,” zählt Anna Neamtu auf, “einen Österreicher, einen Luxemburger,  bald auch einen Südtiroler, zwei Ungarinnen. Wir sind sehr vermischt hier.”  3000 Deutschstämmige gibt es noch in Sibiu. Davon – schätzt Anna Neamtu – sind fünf Sechstel schon zu altersschwach, um ins Theater zu kommen. Ihr Angebot richtet sich an die Schulen, die zu einem großen Teil Deutsch als erste Fremdsprache unterrichten. Außerdem touren viele Stücke durch Rumänien, in andere Städte mit einer starken deutschen Minderheit. Aber auch viele Rumänen kommen in die Aufführungen, Leute, die kein Deutsch verstehen. Für sie gibt es Übertitel oder eine Übersetzung per Kopfhörer.  “Das deutsche Theater in Sibiu hat eine sehr lange Tradition”, erläutert Anna Neamtu. “Wir bauen hier auf 450 Jahre Theater, und wir sind sehr stolz, dass wir das weiterführen können. Auch wenn es nun ein viel kleinerer Rahmen ist, als Abteilung und nicht mehr als selbstständiges Theater.”

Engel von Sibiu © Costin Chesnoiu

Sibiu ist eine Multikultistadt. Beim Spaziergang durch die Straßen, hört man viele Sprachen. Auf vielen Schildern stehen rumänische und deutsche Namen und Begriffe. “Weinkeller” und “Kaffeehaus” liest man häufig. “Wir sind alle zwei- bis dreisprachig aufgewachsen”, erzählt Anna Neamtu. “Wir sind geschichtlich bedingt daran gewohnt, dass mehrere Minderheiten miteinander leben, dass man von den anderen was nimmt, dass man zusammen was aufbaut.”

Märchen und Mythen

Der Dramatiker Lothar Trolle ist durch die Stadt gewandert. In seinem Stück “Die Engel von Sibiu” verbindet er Märchen und Mythen Rumäniens mit konkreten Orten des ehemaligen Hermannstadt. Wie die Geschichte eines kinderlosen Mannes, der durch die Wälder und Straßen irrt, in der irrationalen Hoffnung, einen Sohn zu finden. “Ein Sohn. Ein Sohn. Wir brauchen einen Sohn”, sagt dieser Mann im Stück. Und gleich wechselt die Erzählperspektive. “Und so verloren steht er auch noch zwei Tage später, nachdem er sich schon längst wieder auf den Heimweg begeben hatte, nachmittags nach drei am Ende der Balcescu vor dem Eingang des römischen Kaisers.”

Die Balcescu ist die Fußgängerzone, ein riesiger Boulevard. Von ihr sind es nur ein paar Schritte zum Radu Stanca Nationaltheater. An diesem Abend läuft unten im Theatersaal eine Komödie vor vollem Haus. Doch das ist nicht typisch für die Arbeit des Ensembles. Anna Neamtu zeigt einen großen Querschnitt deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Roland Schimmelpfennig, Peter Handke und Franz Xaver Kroetz stehen gerade auf dem Spielplan. Auch Büchners “Woyzeck”, der ja seit vielen Jahren auch in Deutschland einer der meistgespielten Klassiker ist.

Arbeit an der Sprache

Engel von Sibiu © Costin Chesnoiu

Im ersten Stock sitzen die Schauspieler, die in den “Engeln von Sibiu” mitspielen, und arbeiten wenige Tage vor der Uraufführung noch einmal genau am Text. Nicht für alle ist  Deutsch die  Muttersprache. Julia Maria Popas Familie spricht Rumänisch. “Ich hab Deutsch in der Schule gelernt,” sagt sie, “hab dann in Deutschland viele Jahre verbracht, aber bei mir zu Hause spricht keiner deutsch.” Auch die Deutschstämmigen haben einen Dialekt mit rollendem R. Die Sprachlehrerin Inge Freigang feilt an einzelnen Betonungen, am Sprachrhythmus, holt einzelne Worte noch einmal genauer hervor. Sie lobt viel, die vier Schauspielerinnen des Nationaltheaters haben hart an diesem Text gearbeitet. Mit einer Textflächendramaturgie, in der es zunächst keine klaren Rollenzuordnungen gibt, haben sie bisher keine Erfahrung. Aber sie kennen viele der Gedichte und Legenden, die Lothar Trolle in seinen poetisch fließenden Text eingewoben  hat.

Engel von Sibiu © Costin Chesnoiu

Die Uraufführung wird nicht im Theater gezeigt, sondern im Thalia Saal, der heutigen Philharmonie. Dort spielte früher das deutsche Theater, es  ist der repräsentativste Saal Sibius. Doch an diesem Abend probiert dort ein Orchester, am nächsten Tag ist Konzert. Anna Neamtu zeigt das Modell des Bühnenbildes, einen weißen Guckkasten mit einem Vorhang und einer abgetrennten Pförtnerloge im Hintergrund. Darin sitzt ein alter Mann, der sterben wird.

Lothar Trolles Stück besteht aus Gedanken, Gedichten, Impressionen. Nicht alle Sätze werden zu Ende geführt, manche bleiben in der Luft hängen. Die vier Schauspielerinnen spielen weiß gekleidete Engel. “Theater sollte rätselhaft auch bleiben,” meint Johanna Adam, die aus einer deutschen Familie stammt. “Man sollte nie dem Publikum die Augen ausstechen mit irgendeiner Lösung. Eigentlich sollte sich jeder eine Geschichte dazu denken.”

Bären in der Stadt

Engel von Sibiu © Costin Chesnoiu

Regie bei dieser Uraufführung führt Peter Carp, der Intendant des Theaters Oberhausen. Er hat einen Schauspieler aus seinem Ensemble mitgebracht, den aus Polen stammenden Marek Jera. Er spielt den sterbenden alten Mann. Ich wundere mich, dass er bei der Probe seinen Text ganz leise und nachdenklich in die Luft haucht. Das klappt im kleinen Proberaum, aber auf der Bühne? Jera klärt mich auf, er hat ein Mikroport und sitzt in seiner Pförtnerloge hinter Plexiglas. Als Jera nach Sibiu kam, wunderte er sich nicht nur darüber, dass es dort eine deutschsprachige Zeitung gibt. Sondern auch über die Themenauswahl. “Der größte  Artikel war”, erzählt Jera, “wie verhält man sich, wenn ein Bär da vor dir steht? Ich hab es sehr aufmerksam gelesen und mir Notizen gemacht.” Die Schauspielerinnen lachen. Für sie ist das selbstverständlich. “In unseren Wäldern gibt es Wölfe und Bären. Und sie kommen sogar in die Stadt rein.”

Herrenlosen Hunden begegnet man schon bei einem kurzen Spaziergang in Sibiu. Aber sie sind registriert und geimpft. Marek Jera zeigt mir im Galopp die Stadt. In einer Stunde beginnt ein Champions-League-Spiel, das wollen wir beide sehen. Am Abend ist alles ruhig, wenige Leute sind auf den Straßen. Wir gehen auf die Lügenbrücke. Der Legende nach soll sie zusammenbrechen, sobald jemand auf ihr steht und nicht die Wahrheit sagt. Todesmutig rufe ich den Satz: “Peter Carp ist der größte Theaterintendant Deutschlands.” Die Brücke hält. Vielleicht versteht sie kein Deutsch. Oder es stimmt. Wer weiß?

Am Ende Fußball

Bayern München gegen Inter Mailand. Ich hatte gedacht, dieses Spiel verpassen zu müssen. Im Restaurant kuscheln sich alle auf ein Sofa vor dem großen Fernseher. Die Schauspielerinnen sind nicht gekommen, aber die Sprachlehrerin, ihre Tochter, die Bühnenbildnerin, Marek, ich und der Österreicher im Ensemble, Wolfgang. Er zittert die ganze Zeit für die Italiener und schaut sehr böse, wenn man ihn einen Verräter nennt. Im Theater ist es deutlich einfacher, mit einer multikulturellen Besetzung klar zu kommen, als beim Fußball gucken. Aber wir kriegen auch das hin. Anna Neamtu ist ebenfalls dabei, aber sie schaut kein einziges Mal auf den Fernseher. Sie arbeitet, denkt, spricht über Theaterthemen, auch noch kurz vor Mitternacht. Und man sieht ihr an, dass sie in der deutschen Abteilung  als Häuptling mit nur einer Indianerin  richtig viel zu stemmen hat. Doch auch ein kurzer Besuch vermittelt eine Ahnung, dass eine Stadt mit Wölfen, Bären und Engeln für Theatermacher sehr anregend ist.

Weitere Artikel zum Thema:
“Der Nachtportier der Geschichte in der Stadt am Rande der Zeit” von Christian Desrues (www.nachtkritik.de)

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