Saratow? Nicht nur ich habe da einen blinden Fleck auf der inneren russischen Landkarte, stelle ich bei meinen Reisevorbereitungen fest: Kein einziger Freund oder Kollege zeigt irgendein Zeichen des Erkennens, wenn ich den Namen der russischen Stadt nenne. Saratow? Nie gehört.

Ania Michaelis und Dagmar Domrös vom Theater Junge Generation (tjg) in Dresden schwärmen dafür umso mehr von der großen Stadt an der Wolga, gut 800 Kilometer südostlich von Moskau, und von deren Kinder- und Jugendtheater. Sie beneide mich sehr darum, sagt Ania Michaelis, nach Saratow reisen zu dürfen. „Die Kollegen dort sind sehr herzlich, wir sind während der Proben eng zusammengewachsen.“ Es sei sicherlich nicht ihre letzte Arbeit in Russland gewesen. Michaelis ist die Regisseurin der Koproduktion zwischen dem tjg und dem Akademischen Kisseljow-Jugendtheater in Saratow, die Anfang Juni in Russland Premiere feierte und die ich mir dort nun anschauen werde. Zusammen mit der Dramaturgin Dagmar Domrös, der Theaterpädagogin Bettina Seiler und dem Musiker Bernd Sikora verbrachte die Regisseurin den Mai an der Wolga und erarbeitete mit russischen Schauspielern des Kisseljow-Ensembles das Kleinkinderstück „…und über uns leuchten die Sterne…“. Morgen ist die nächste Vorstellung angesetzt, heute dagegen ist Zeit, die Stadt und das Kisseljow-Theater umfassender kennenzulernen.

Dass der gewöhnliche Deutsche wenig von Saratow weiß, geht einher mit der Schwierigkeit, dort hinzukommen. Zwar hat die Stadt mit ihren über 800 000 Einwohnern einen Flughafen, der wird aber nur von einer einzigen Airline angesteuert – und deren Tickets kann man von Deutschland aus nicht kaufen. Nur spezielle Reisebüros mit Russland-Connection sind da eine Hilfe. Eine andere Möglichkeit: der Berlin-Saratow-Express. Der Zug fährt jeden Samstag in der deutschen Hauptstadt ab und braucht schlappe 46 Stunden für die 2650 Kilometer – ein Angebot, dass mehr das Reisen als das Ankommen im Blick behält. Die unglaubliche Weite des Landes, die Felder, Wälder und Flüsse kann ich dann aber auch beim wolkenlosen Flug in der kleinen Maschine von Moskau nach Saratow bestaunen. Dort angekommen trifft mich fast der Schlag: Schon 22.30 Uhr und immer noch über 30 Grad – es ist schwül wie im Frühjahr in Nordafrika. Viele junge Leute flanieren in Flip-Flops und Hot-Pants über die breiten Boulevards; die bunten Lichterketten und Namenszüge der Bars blinken wie an Pauschalurlaubsorten – mit der Ausnahme, dass Saratow keiner ist. Das merke ich daran, dass wirklich kein Mensch, nicht mal das Hotelpersonal, eine andere Sprache als Russisch spricht. Ohne die freundliche Übersetzerin vom Theater wäre ich sogar am Hotel vorbei gelaufen: nur kyrillische Buchstaben, obwohl es in der „Deutschen Straße“ liegt. Der Straßenname verweist auf die Geschichte: Bis zum Zweiten Weltkrieg lebten in Saratow Wolgadeutsche, bis 1947 gab es ein deutsches Gefangenenlager.

Abgesehen von den Sprachschwierigkeiten (Essen bestellen mit kyrillischer Speisekarte? Ein Blindflug mit Zeigefinger), wäre das heutige Saratow ein angenehmer Urlaubsort: Die Wolga, die ans Ende der Fußgängerzone anschließt, ist hier ganze drei Kilometer breit und wirkt an manchen Badestellen fast wie das Mittelmeer. Aber ich bin ja nicht zum Baden angereist, sondern für die Kultur. Ich bin nicht sicher, ob man Wikipedia glauben darf, die Stadt sei „ein bedeutendes Kulturzentrum an der Wolga“ – aber die kilometerlange alte Wolgabrücke ist schon sehenswert. Außerdem gibt es ein bedeutendes Museum für russische Kunst, ein zweihundert Jahre altes Opernhaus und, für uns nun die Hauptsache, fünf Theater.
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