Das Theater Osnabrück und das Drama Theatre Russe zeigen “Rustschuk – die gerettete  Zunge” nach Elias Canetti

Erinnerungen sind selten klar. Oft verschwimmen die Bilder, fügen sich zusammen, zerfließen wieder. Eine Autobiographie zu schreiben bedeutet immer auch, sein Leben neu zu erfinden. Der Regisseur und Bühnenbildner Ivan Stanev hat für das Wesen der Erinnerung ein überragendes Bild gefunden.

Theater Osnabrück und Drama Theatre Russe, Rustschuk – die gerettete Zunge nach Elias Canetti

Theater Osnabrück und Drama Theatre Russe, Rustschuk: "Die gerettete Zunge" nach Elias Canetti

Die Bühne des Emma-Theaters, der kleinen Spielstätte des Theaters Osnabrück, steht unter Wasser. Über die Lautsprecher tönt die Stimme des Schriftstellers Elias Canetti, es ist ein Interview zu seinem 70. Geburtstag. Deutsch – so hören wir – ist erst die vierte Sprache, die er gelernt hat. Dazu bewegt sich eine überdimensionale Zunge am Rand des Bassins. Den ersten Teil seiner Autobiographie hat Elias Canetti “Die gerettete Zunge” genannt. Eine seiner frühesten Erinnerungen handelt von einem Mann, der  mehrmals drohte, ihm, dem kleinen Jungen, die Zunge herauszuschneiden. Die Zunge verschwindet, der Schauspieler Jan Schreiber nimmt an einem Tisch Platz, hinter Mikrofon und Schreibmaschine.  Er sieht wie der ältere Canetti aus und nähert sich auch sprachlich der wienerischen Sprachmelodie des Autoren. Die Rückschau auf die frühen Jugendjahre beginnt.  Bilder schimmern durch die Wasseroberfläche hindurch. Erst sind es Porträtfotos, Canetti als Kleinkind, als Jugendlicher, als Erwachsener. Später sind es Postkarten die Rustschuk, die Stadt an der Donau, die heute Russe heißt, zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigen. Sie drehen sich, zerlaufen, fließen ineinander. Was der Videokünstler Thorsten Alich hier zusammen mit der Osnabrücker Technik leistet, ist grandios. Wir schauen in Canettis Kopf, beobachten den Prozess des Erinnerns.
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