Paul Koek inszeniert „Drei Schwestern“ in Bochum als surreales Musikschauspiel

„Er hat alles komponiert.“ Paul Koek spricht über Anton Tschechow. „Jeder Dialog gibt den Szenen davor und danach eine bestimmte Dynamik. Wenn du etwas streichst, änderst du die Partitur.“ Paul Koek hat nicht gestrichen in seiner Inszenierung der „Drei Schwestern“ am Schauspielhaus Bochum. Sondern mit drei Musikerinnen seiner „Veenfabriek“ aus Leiden einen eigenartigen, wunderschönen Theaterabend geschaffen, ein Musikschauspiel.

Ein Haus ohne Vorderwand, vier Etagen hoch. Das Publikum schaut auf Zimmer, in denen nur wenige Möbel stehen. Manche Wände sind tapeziert, andere einfach aus Holz. Tschechows „drei Schwestern“ wohnen mit ihrem Bruder Andrej auf einer Baustelle. Die Musikerinnen geistern durchs Haus, sie unterlegen das Geschehen mit zarten, dissonanten, reibungsvollen Klängen, oft sind es wummernde, pochende, fiepende Geräusche. Bei jeder Inszenierung Paul Koeks gibt es einen konkreten Komponisten als Bezugspunkt, einen „ghost composer“. In diesem Fall ist es Morton Feldman, an dessen Stücke sich eine Cellistin, eine Flötistin und Kokomponistin Teodora Stepancic an den Tasteninstrumenten anlehnen.

Musik und Bühne als Herausforderung

Bei der Premiere wirken Schauspieler und Musikerinnen wie eine Einheit. Der Weg dahin auf den Proben war lang. Denn das Trio musste erst ein Gespür dafür entwickeln, wie die Szenen laufen, wie weit sie eingreifen dürfen und wo sie den Schauspielern den Vorrang lassen müssen. Auch das Bühnenbild stellte für die Darsteller eine riesige Herausforderung dar. Denn oft sehen sie ihre Kollegen nicht und müssen sich einfach darauf verlassen, dass die gerade das Verabredete tun. Da geht es um Vertrauen.

Die drei Schwestern: Anna Grisebach als Masa, Kristina-Maria Peters als Irina und Bettina Engelhardt als Olga (von links)

„Ich bin nicht da,“ sagt Paul Koek. „Tschechow und die Schauspieler sind da.“ Mit anderen Worten: Der Regisseur  interpretiert nicht, setzt keinen Fokus. Er entfaltet eine Tschechow-Kosmos, in dem die alte Magd und zwei Unterleutnants ebenso wichtig sind wie die vermeintlichen Hauptfiguren. Oft sind sie auf der Bühne, auch wenn sie in der Szene gar nicht vorkommen. Man kann ihnen beim Leben zuschauen, was aber nichts mit Realismus zu tun hat. Mal rasen die Schauspieler wie in wilden Slapsticknummern die Holztreppen rauf und runter, mal laufen Szenen plötzlich in Zeitlupe weiter. Die Zeitebenen verschwimmen. Am Anfang tragen die drei Schwestern noch Kleider aus dem 19. Jahrhundert, später heutige Garderobe. Paul Koek verortet das Stück nicht in einer speziellen Epoche, ihm geht es um das tragikomische Sein an sich, um platzende Träume, verzweifelte Fluchtversuche, um Einsamkeit und Gleichgültigkeit. Aus vielen überhöhten Momenten schälen sich immer wieder psychologisch präzise Seelenstudien heraus. Da sitzt der zuvor völlig überdrehte Bruder (Roland Riebeling) einmal verloren im zweiten Stock und will seinen Schwestern ganz ruhig erklären, warum er seine nervige Frau liebt. Aber niemand hört zu.

Durchläufe von Anfang an

Für Paul Koek, der schon während des Studiums am Theater des Regisseurs Eric Vos arbeitete und von ihm quasi adoptiert wurde, ist es die zweite Arbeit am Bochumer Schauspielhaus. Zur ersten vor einem Jahr, dem „Candide“ nach Voltaire, hatte er noch holländische Schauspieler mitgebracht. Diesmal arbeitete er nur mit deutschen Darstellern, darunter viele, die bei seiner ersten Inszenierung in Bochum nicht dabei waren. Früher wollte Paul Koek am liebsten mit Schauspielern arbeiten, die mit seinem Stil vertraut waren. „Heute bin ich nicht mehr so erpicht darauf“, sagt er im Gespräch, „dass die Schauspieler meine Methode verinnerlichen müssen. Dadurch verliere ich zwar was, aber ich gewinne auch.“ Von Anfang an macht Paul Koek Durchläufe. Was die Schauspieler ordentlich stresst, denn sie sind meist kleinteiligeres Arbeiten gewöhnt. Aber so übernehmen sie früh Verantwortung für die Gestaltung ihrer Charaktere, erkunden ihre Möglichkeiten, können auf einen großen Schatz an Erfahrungen zurückgreifen. Koeks Ziel bei den Proben: „Die Schauspieler sollen die Flügel entfalten, die sie längst schon haben.“

Kurz vorm Entfalten ihrer Flügel: Nadja Robiné als Natascha

Das gelingt bei der Premiere auf fantastische Weise. Jede Rolle ist prägnant besetzt, keine lässt sich in wenigen Worten angemessen beschreiben. Weil kein Schauspieler es sich in einer Facette gemütlich macht, sondern immer neue Brüche sucht. Da mag es auf den ersten Blick nicht passen, wenn Bettina Engelhardt als sonst so kontrollierte Lehrerin Olga plötzlich vor Kopfschmerzen wimmert wie ein kleines Kind. Aber so sind Menschen nun mal. Überragend spielt die hochschwangere Nadja Robiné Andrejs Ehefrau Natascha, ein monströses Muttertier, ein Haushaltsdrachen, der sich seinen Panzer als Schutz vor Demütigungen zugelegt hat. Eine Riesenenergie geht von ihr aus. Beim Premierenpublikum kamen die „Drei Schwestern“ allerdings weniger an, da gab es einige Buhs neben den Bravos. Paul Koeks spezielle Theaterform ist auch eine Zumutung. Er wirft den Zuschauer in  eine komplexe, verwirrende Welt und gibt keine Orientierungshilfen. Wer sich darauf einlässt, erlebt einen beglückenden Abend.

12., 20., 29. Oktober, 12., 24. November, www.schauspielhausbochum.de

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